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- Volume 5 - 2017 : Architecture, espace, aisthesis
- Raum und Mensch
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Raum und Mensch
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Lors de la conception d’édifices, des thèmes comme ceux du coût, des grandeurs spatiales, de la physique du bâtiment, de la fonction et de la statique sont souvent au premier plan. Ces aspects peuvent être définis de manière précise et traités rationnellement. Mais comment l’être humain, usager de ces espaces, les vit-il ? Dans la perception et le traitement de telles réalités complexes, ce ne sont pas seulement les excitations sensorielles qui jouent un rôle décisif, mais aussi l’état psychique du moment, les traits héréditaires, la structure de la personnalité – qui ont été formés à travers différentes expériences passées – et enfin aussi l’arrière-plan social et culturel qui est celui de la personne. L’être humain vit souvent les aspects de l’espace bien autrement qu’ils ne sont représentés dans les plans dessinés en deux dimensions.
Qu’est-ce que l’espace ? La pensée de ce que peut être l’espace s’est modifiée plusieurs fois au cours de l’histoire de l’Occident. Outre les espaces construits, visuellement perceptibles, il faut penser l’existence, autour de chaque être humain, de zones invisibles qui sont importantes pour sa propre manière de se sentir et de se comporter, mais aussi pour les relations spatiales intersubjectives. L’espace de la construction architecturale, ainsi, ne saurait se contenter de prendre en considération uniquement un programme d’utilisation fixé de manière mathématique.
Abstract
When it comes to the planning of buildings, topics such as costs, room size, building physics, function and statics are often in the foreground. These aspects can be accurately defined and treated rationally. But how do humans as users experience rooms? In addition to the effects on the sensory organs, a decisive role is also played by elements such as the current psychological condition, hereditary factors, personality structure – all of which have been conditioned by experiences in the past – as well as a person’s socio-cultural background.
Spatial aspects are often experienced by humans in ways that are completely different from those represented in drawn, two-dimensional plans.
What is space? Opinions as to what space is supposed to be have changed several times in the Western world in the course of history. In addition to the built spaces that can be visually perceived, there are other, invisible zones around each human being that are important for his wellbeing and behaviour, but also for interpersonal spatial relations.
Built architectural space must therefore not solely adhere to a mathematically determined usage programme.
Zusammenfassung
Bei der Planung von Gebäuden, stehen Themen wie Kosten, Raumgröße, Bauphysik, Funktion und Statik oft im Vordergrund. Diese Aspekte können genau definiert und rational behandelt werden. Wie aber erlebt der Mensch als Nutzer diese Räume? Nebst den Reizen der Sinnesorgane spielen bei der Wahrnehmung und Verarbeitung von komplexeren Sachverhalten auch die momentane psychische Verfassung, Erbanlagen, die Persönlichkeitsstruktur - welche durch verschiedene Erfahrungen und Gegebenheiten in der Vergangenheit geformt wurden - sowie der soziokulturelle Hintergrund der Person eine entscheidende Rolle. Räumliche Aspekte erlebt der Mensch oft ganz anders als auf gezeichneten, zweidimensionalen Plänen vorgegeben.
Was ist Raum? Die Meinung, was Raum sein soll, hat sich im Abendland im Laufe der Geschichte mehrmals geändert. Zusätzlich zu den gebauten Räumen, die optisch wahrnehmbar sind, existieren um jeden Menschen andere, unsichtbare Zonen, die für sein Befinden und Verhalten, aber auch für die zwischenmenschlichen räumlichen Beziehungen, wichtig sind.
Der gebaute architektonische Raum darf deshalb nicht nur auf ein mathematisch festgelegtes Nutzungsprogramm Rücksicht nehmen.
Tabla de contenidos
1Bauen heisst Raum schaffen. Wie dieser Raum schlussendlich sein wird, wie er genutzt werden kann, wie er aussehen wird, hängt von ganz verschiedenen Faktoren ab. Zwischen dem geplanten, auf den Bauplänen dargestellten Raum und dem fertig gebauten, erlebten Raum, besteht oft eine grosse Diskrepanz. Bei der Planung spielen statische, physikalische, technische und finanzielle Aspekte, die mit genauen Zahlen belegbar sind, eine primäre Rolle. Sie können berechnet und gemessen werden, über sie kann objektiv diskutiert werden und sie können exakt wissenschaftlich gelehrt und gelernt werden. Dabei geht oft vergessen, dass bei der Beurteilung architektonischen Raumes die psychologischen, sozialen und kulturellen Eigenschaften der Architekten und der künftigen Nutzer viel prägender sind. Auch diese Beurteilungen sind nicht nur rein emotional, vom Geschmack der jeweiligen Person abhängig. Auch über sie gibt es konkrete und objektive Erkenntnisse. Diese Erkenntnisse müssen bei der Planung von architektonischem Raum stärker einbezogen - und bei der Ausbildung von Architekten - mehr berücksichtigt werden.
2Der Mensch hat ein Bedürfnis nach Raum, Raum der ihn vor den Einflüssen der Umwelt schützt. Lebte der Mensch zuerst in Schutznische und Höhle, so begann er wahrscheinlich vor ca. einer halben Million Jahren mit dem Bau einer Behausung aus Wänden und mit einem Dach (1). Dies war der erste kulturelle Schritt zum Wohnhaus. Sigmund Freud meinte, das Wohnhaus sei „Ersatz für den Mutterleib, die erste, wahrscheinlich noch immer ersehnte Behausung, in der man sich sicher war und sich wohl fühlte“ (2). Der schutzbietende Raum, der Wohnraum, ist Ausgangspunkt der menschlichen Orientierung, er ist das Zentrum, von wo aus der Mensch seine räumlichen Beziehungen aufbauen kann. Die Gestaltung dieses Raumes hängt von den technischen Möglichkeiten ab, ist aber ebenso, und das ist viel wichtiger, der Ausdruck einer bestimmten Geisteshaltung seiner Bewohner und Erbauer. Oder mit den Worten von Louis I. Kahn: „Im Wesen des Raums lebt der Geist und der Wille zu einer bestimmten Art des Seins“ (3). Die Art des Seins und somit der Geist der Raumgestaltung sind auch kulturabhängig.
3Zwischen Betrachter und Raum besteht eine Beziehung, sie stehen in einem bestimmten Ordnungsverhältnis zueinander. Der Raum ist nichts Gegebenes oder Konstantes, er wird definiert durch Bezugspunkte und ist verschiedenartig erlebbar, je nach Standort oder Stimmung des Betrachters, je nach Tages- oder Jahreszeit, etc. Die Umwelt, vor allem die durch den Menschen geschaffene architektonische Umwelt, besteht aus einer mehr oder weniger komplexen Beziehungskonfiguration verschiedener räumlicher Ordnungssysteme, die einander dominieren, überlagern, durchdringen, miteinander rivalisieren. Der Raum einer Stadt besteht aus einer Vielzahl solcher Raumverhältnisse: aus der Beziehung verschiedener Straßenräume untereinander, zu Plätzen, zu Gebäuden. Innerhalb eines Gebäudes können verschiedene Räume unterschieden werden, die einen Bezug zueinander, und auch zum Gebäudeumraum haben. Schlussendlich wird jedes einzelne Zimmer durch die Möblierung in weitere Raumzonen unterteilt. Je geordneter diese Raumstrukturen sind, desto einfacher wird das Erfassen des Raumes als Ganzes.
1. Der erlebte Raum
4Wenn wir im Zusammenhang mit Architektur von Raum sprechen, so meinen wir meistens den gebauten, architektonischen Innenraum. Dieser wird heute auf Grund von Plänen gebaut. Der Architekt setzt seine räumlichen Ideen in eine zweidimensionale Planzeichnung um. Der Bauunternehmer wiederum baut nach diesen Plänen einen dreidimensionalen, materiellen Raum. Den auf den Plänen dargestellten Raum können wir als sogenannten mathematischen Raum bezeichnen.
5Im mathematischen Raum sind alle Punkte gleichwertig, jede beliebige Richtung kann zu einer Achse gemacht werden. Im Gegensatz dazu steht der sogenannte erlebte Raum, der Raum wie ihn der Betrachter, der Benutzer erlebt. Der auf den Plänen dargestellte Raum ist keineswegs identisch mit dem erlebten Raum, sie unterscheiden sich grundsätzlich. Ihren Zusammenhang beschreibt der deutsche Philosoph Otto Friedrich Bollnow wie folgt: „Dabei ergibt sich der mathematische Raum aus dem erlebten Raum, indem man von den verschiedenen konkreten Lebensbezügen absieht und das Leben auf ein blosses Verstandessubjekt reduziert“ (4). Der erlebte Raum ist stark an den Betrachter gebunden und wird so von verschiedenen Menschen ungleich wahrgenommen, ja vom selben Betrachter, je nach seiner momentanen psychischen Verfassung, verschieden empfunden. Der erlebte Raum hat immer ein Zentrum, den Standort des Betrachters, und eine Achse, die mit der Körperhaltung des Betrachters zusammenhängt. In diesem Raum stehen die einzelnen Elemente in einer Beziehung zueinander: hinten, vorn, links, rechts, usw. Diese Beziehung ist gegliedert und hängt wiederum vor allem vom Standort des Betrachters ab, ist also subjektiv. Der erlebte Raum ist subjektiv mehr als Länge mal Breite mal Höhe. Der Raum wird je nach Standort des Betrachters, je nach seiner Bewegungsrichtung verschieden wahrgenommen. Schlussendlich kann die Wahrnehmung auch situationsabhängig sein. Ein und denselben Raum können wir je nach Situation verschieden wahrnehmen. Zum Beispiel erleben wir einen Kirchenraum sicher anders bei einer Hochzeit als bei einer Begräbnisfeier.
6Ein großer Unterschied zwischen mathematischem und erlebtem Raum besteht bei den Entfernungen: der empfundene Abstand zweier Punkte stimmt meistens nicht mit der gemessenen Distanz überein. So können zwei Zimmer verschiedener Wohnungen auf dem Plan nur durch eine Wand getrennt sein, empfindungsmässig liegen sie aber meilenweit auseinander. Auch werden Distanzen in Richtung Stadtmitte kürzer empfunden als solche vom Zentrum weg, auch wenn sie mathematisch gemessen gleich lang sind. Bei Experimenten zeigte sich, dass in fast allen Fällen die Länge des Weges stadtauswärts weitaus stärker überschätzt wird als die stadteinwärts. Dies hängt offenbar damit zusammen, dass der Weg gegen das Zentrum komplexer, und somit interessanter ist, als der Weg stadtauswärts (5). Ein Quadrat erscheint uns erst dann als gleichseitiges Viereck, wenn die Breite in Wirklichkeit etwas grösser ist als die Höhe. Dies hängt wahrscheinlich mit der Tatsache zusammen, dass bei einer horizontalen Augenbewegung nur halb so viele Muskeln beteiligt sind als bei einem vertikalen Blickwechsel (6). Generell schätzen wir senkrechte Distanzen größer ein als waagrechte.
7Eng verbunden mit den Gegensätzen zwischen vertikal und horizontal sind die Begriffspaare oben/unten und rechts/links, wobei sich das erste dieser Begriffspaare auf die Vertikale, das zweite auf die Horizontale bezieht. Nach oben gehen heisst, sich gegen die Schwerkraft bewegen, umgekehrt ist der Widerstand beim nach unten gehen kleiner. Die potentielle Massenenergie eines höher gelegenen Objektes ist grösser als die eines tiefer gelegenen und auch das wahrgenommene „Gewicht“ eines Gegenstandes ist oben größer als das desselben Gegenstandes unten (7). Zwischen unten und oben besteht eine Hierarchie. Links und rechts scheinen gleichwertig, sie sind es aber nicht. Schon die Ähnlichkeit der linken und rechten Seite des Menschen beschränkt sich auf das Äußere, die Anordnung vieler innerer Organe ist aber asymmetrisch. Die meisten Menschen schreiben mit der rechten Hand. Ein „linkischer“ Mensch oder eine Person, die „zwei linke Hände“ hat, gilt als ungeschickt. Der Mensch empfindet auch psychologisch deutlich Wertunterschiede zwischen diesen beiden Richtungen. Rechts hat denselben Wortstamm wie „richtig“ und „gerecht“. Die rechte Seite ist oft die Bevorzugte: Der Herr lässt die Dame rechts gehen, der Ehrengast sitzt rechts vom Gastgeber. Also auch hier keine Gleichwertigkeit zwischen links und rechts. Wahrnehmungsmässig erscheint uns ein Gegenstand im Sehfeld links „leichter“ und kleiner als der gleiche Gegenstand rechts im Sehfeld. Haben wir in einem Sehfeld lauter gleiche Figuren, so erscheinen uns die unten links am “leichtesten“ und kleinsten, die oben rechts am „schwersten“ und grössten (8) (Abbildung 1). Ein Betrachter identifiziert sich mehr mit der linken Seite als mit der rechten, eine Tatsache, die auch in Theater und Film ausgenutzt wird. Die linke Bühnenhälfte gilt als die wichtigere und die Hauptperson sollte sich wenn immer möglich links befinden, so identifizieren sich die Zuschauer eher mit ihr und sehen das Geschehen von ihrem Standpunkt aus. Die Tatsache wirkt sich auch auf die wahrgenommene Geschwindigkeit aus: ein Auto, das von links nach rechts fährt, erscheint uns schneller als dasselbe Auto mit derselben Geschwindigkeit in der umgekehrten Richtung. Die genauen Gründe dieser Phänomene sind nicht bekannt, hängen aber wahrscheinlich mit der Dominanz der linken Gehirnrinde zusammen (9).
8Abb. 1: Wahrnehmungsmässig Veränderung der Grösse von vier gleichgroßen Quadraten, je nach Lage im Sehfeld
9Wir haben gesehen, dass der erlebte Raum sehr viel komplexer ist als der mathematische Raum. Farbe ist ein weiteres Mittel, mit dem das Erleben von Raum manipuliert werden kann. Farben haben wahrnehmungsmäßig ein „Gewicht“. Obwohl wir wissen, dass normalerweise die Farbe eines Gegenstandes keinen Einfluss auf dessen physikalisches Gewicht hat, empfinden wir einen weissen, gelben, grünen oder hellblauen Gegenstand leichter als denselben von orangeroter, dunkelblauer oder tiefvioletter Farbe. Schwarz, als die dunkelste Farbe, bildet die Ausnahme: Sie erweckt den Eindruck von Leere. Nicht der Farbton allein, auch Helligkeit und Sättigung beeinflussen die „Gewichts“ -Wahrnehmung von Farben: je heller und je blasser, desto „leichter“. Der Grund für das differenzierte Gewichtsempfinden bei verschiedenen Farben ist nicht genau bekannt; wahrscheinlich hängt es von der Tatsache ab, dass wir gewohnt sind, Licht, und somit Helligkeit, eher oben als unten zu sehen. Dementsprechend ordnen wir Schwere eher unten, Leichtigkeit eher oben ein (10). Farben haben auch eine wahrnehmungsmäßige „Temperatur“: So empfinden wir rot und orange als „warm“, blau und grün-blau als „kalt“. Auch hier spielt die Sättigung eine entscheidende Rolle: je blasser die Farbe, desto „kälter“.
10Mit Farben kann der menschliche Gemütszustand beeinflusst und manipuliert werden, sie haben einen direkten Einfluss auf den menschlichen Organismus: Mit Farbe kann Blutdruck, Puls, Atmung, Reizbarkeit und Konzentrationsfähigkeit beeinflusst werden. Rot kann stimulierend und anregend wirken, während grün eher beruhigend und entspannend wirkt. Auch hier spielt der Sättigungsgrad und der Helligkeitsgrad eine Rolle.
11Entsprechend den verschiedenen Gewichts- und Distanzempfindungen haben Farben auch einen Einfluss auf unser Raumempfinden, auf die Art wie Raum wahrgenommen wird. Sie können ein räumliches Konzept unterstützten und das Verhalten des Menschen beeinflussen. In Abbildung 2 links unterstützt die Farbgebung die Symmetrie des Raumes, in der Abbildung rechts wird mit der Farbe die Wahrnehmung der Raumsymmetrie zerstört, die beiden Seiten erscheinen uns verschieden. In beiden Abbildungen haben wir denselben mathematischen Raum, zwei Räume mit derselben symmetrischen Form. Beide Räume erleben wir aber auf Grund ihrer Farbgebung verschieden, der eine eben symmetrisch der andere eher asymmetrisch.
12Abb. 2: Manipulation der Raumwahrnehmung durch Farbe.
13Einen weiteren starken Einfluss auf unsere Raumwahrnehmung hat das Licht, die Tageszeit. Wir erleben ein und denselben Raum ganz verschieden bei Tag oder bei Nacht. Wir können die beiden als Tagraum und Nachtraum bezeichnen. O. F. Bollnow meint dazu: „Der Tagraum hat für die Erfahrung des Raums einen Vorrang. Unsere geläufigen Raumvorstellungen sind dem Tagraum entnommen, und wenn wir den Nachtraum in seinem Eigenwesen erkennen wollen, müssen wir ihn zunächst vom Tagraum abheben“ (11). Der Tagraum ist übersichtlich, Zwischenräume und Abgrenzungen sind erkennbar, der Raum hat, je nach Standort des Betrachters, eine Richtung, er erscheint dreidimensional. Der Nachtraum hat weder Ausdehnung noch erkennbare Tiefe oder Richtung, oft sind die einzelnen Objekte schwer als solche erkennbar. Der Nachtraum wirkt unbestimmt. Tag- und Nachtraum sind zwei Extreme, die sich durch die Art der Beleuchtung unterscheiden: Der Tagraum ist mit Licht erfüllt, im Nachtraum herrscht mehr oder weniger Dunkelheit (Abbildung 3). Neben diesen Extremen gibt es unzählige Zwischenstufen, abhängig von einer eventuellen künstlichen Beleuchtung, von der Tageszeit oder von Witterungsbedingungen.
14Abb. 3: Tagraum (links) und Nachtraum, am Beispiel von Hongkong.
2. Raumverständnis im Laufe der Geschichte
15Raum kann als Leere bezeichnet werden, Leere die etwas aufnimmt, die gefüllt werden kann. Er ist nichts Konkretes und trotzdem messbar. So sagen wir etwa: „Es ist genügend Raum vorhanden“. Raum kann als solcher nicht gesehen werden, er wird erst durch die ihn begrenzenden Elemente erlebbar. Die Frage, was er nun eigentlich ist, beschäftigte die Menschen seit der Antike.
16Aristoteles war der erste abendländische Denker, der sich in seinen Schriften mit dem Raumbegriff ausführlich beschäftigte. Er verglich den Raum mit einem Gefäß, Raum als Hohlraum, der umschlossen sein muss, damit er existiert und somit auch immer endlich ist (12). Der italienische Philosoph und Astronom Giordano Bruno entwickelte im 16. Jahrhundert eine andere Auffassung über Raum. Er machte die Idee des Unendlichen zu einem der Hauptpfeiler seiner Philosophie. Der Raum wird wahrnehmbar durch die Dinge, die sich in ihm befinden, er wird zum Umraum oder Zwischenraum. Er ist ein System von Beziehungen zwischen den Dingen und muss nicht mehr, wie bei Aristoteles, umschlossen sein. Damit ist er auch nicht mehr unbedingt endlich (13) (Abbildung 4).
17In der deutschen Sprache existiert nur ein Wort für Raum, in der englischen sind es zwei: „room“ und „space“. „Room”, auch das Zimmer, entspricht eher der Auffassung von Aristoteles: der in sich geschlossene Raum, das Gefäß. „Space“ wird verstanden als der Raum zwischen den Dingen, der Zwischenraum, der Weltraum, und entspricht so eher der Auffassung von Giordano Bruno.
18Abb. 4: Die beiden Raumauffassungen: links von Aristoteles, Raum als Hohlraum (4. Jh. v. Chr.). Rechts: Giordano Bruno, Raum als das Dazwischen (16. Jh.).
19In der abendländischen Kultur können im Verlauf der Geschichte drei fundamental verschiedene Auffassungen über den Raum unterschieden werden (Abbildung 6). Die erste fällt in die Epoche der Hochkulturen im Zweistromland, in Ägypten und in Griechenland. Architektur war in den unendlichen Raum ausstrahlende Skulptur, die eine Beziehung zum Kosmos herstellte. In der altgriechischen Sprache existiert kein eigentliches Wort für Raum. Die raumdefinierenden Elemente waren wichtiger als der Raum selbst. Für Aristoteles war Raum der Inhalt eines Gefässes. Diese Auffassung schloss eine einheitliche Einstellung zum Raum aus und bewirkte, dass der Innenraum in der griechischen Architektur keine primäre Bedeutung hatte. Raum war pluralistisch und hing von den ihn umgebenden und abschließenden Elementen und von seiner Funktion ab.
20Die Epoche der zweiten Raumauffassung begann mit den großen Bauten der Römer und reichte bis ins 19. Jahrhundert. Im Gegensatz zur plastischen Architektur der Griechen wird die römische oft als Raumarchitektur bezeichnet. Raum war Innenraum und wurde zum wichtigsten Element der Architektur. Zum ersten Mal wurden große Innenräume für verschiedene Nutzungen gebaut. Der Innenraum wurde modelliert und aktiviert, wurde zu einem primären Element der Architektur. Im alten Rom fand diese Entwicklung einen ersten Höhepunkt in der räumlichen Gestaltung der Thermen.
21Um die vorletzte Jahrhundertwende begann die Epoche der dritten Raumauffassung. Der Raum ist nicht mehr ein abgeschlossener Behälter, sondern er wird zur Zone. Der offene Raum, als primäres Element, als Zone, ist eine Erfindung der Moderne. Damit erfährt auch die Beziehung zwischen Innen- und Außenraum einen Wandel.
22Wichtige Impulse für die moderne Architektur kamen auch aus der Malerei. Der schweizer Architekturhistoriker Sigfried Giedion meint dazu: „Maler, die in ihren Ausdrucksweisen voneinander sehr verschieden waren, aber unabhängig vom Publikum arbeiteten, erschlossen langsam eine neue Raumkonzeption. Niemand kann die heutige Architektur wirklich verstehen und das Gefühl, das in ihr liegt, bevor er nicht den Geist begreift, der diese Malerei beseelte“ (14). Theo van Doesburg, Maler und Mitbegründer der De Stijl Bewegung, betätigte sich später auch als Architekt. Sein 1918 entstandenes Bild „Rhythmus eines russischen Tanzes“ hat starke Ähnlichkeiten mit dem 1923 von Mies van der Rohe entworfenen „Landhaus aus Backstein“ (Abbildung 5).
23Abb. 5: Beispiel für den Einfluss der Malerei auf die Moderne. Links: Nachzeichnung eines Bildes von Theo van Doesburg (1918, „Rhythmus eines russischen Tanzes“). Mitte: vereinfachte Darstellung dieses Bildes. Rechts: Ludwig Mies van der Rohe, 1923, „Landhaus aus Backstein“ (Projekt).
3. Die Beziehung zwischen innen und außen
24Schon mit dem Entstehen des ersten Innenraumes musste auch die Beziehung zum Außenraum geregelt werden. Die komplexe Beziehung zwischen innen und außen ist also genauso alt wie das Bauen selbst. O. F. Bollnow meinte: „Diese Doppelheit von Innen- und Außenraum ist grundlegend für den weiteren Aufbau des gesamten erlebten Raumes, ja für das menschliche Leben überhaupt“ (15). Der Mensch ist sowohl auf den Innen- wie auf den Außenraum angewiesen und muss sich auch zwischen ihnen hin und her bewegen können. Deshalb kann das Innen nie ganz vom Außen getrennt sein, zwischen ihnen muss eine mehr oder weniger intensive Beziehung bestehen.
25Abb. 6: Oben: die drei Raumauffassungen der abendländischen Kultur. Unten: die Beziehung zwischen innen und außen in den 3 verschiedenen Raumauffassungen.
26Für Le Corbusier waren die Öffnungen ein zentrales Element der Architektur: „Die gesamte Geschichte der Architektur dreht sich ausschließlich um die Maueröffnungen“ (16). Die Art der Öffnungen in den raumtrennenden Elementen bestimmt die Beziehung zwischen innen und außen wesentlich mit. Das Maß der Offenheit eines Raumes oder eines Gebäudes bestimmt den Grad seiner Beziehung zum Nachbarraum oder zur Umgebung. Je größer die Öffnungen, desto mehr ist das Innere den Einflüssen von außen ausgetzt.
27Die Tür erlaubt dem Befugten einen Raum zu betreten und zu verlassen, ermöglicht es aber auch, Unbefugten den Zutritt zu verwehren. Die Türschwelle hat über ihre rein konstruktive Funktion hinaus eine symbolische Bedeutung: Sie ist die Trennlinie zwischen innen und außen, zwischen privat und öffentlich. Beim Überschreiten einer Schwelle wird ein anderer Bereich betreten. In China bringt das Betreten der Schwelle Unglück, da man sich damit in einer unbestimmten Situation befindet, man ist weder drinnen noch draußen. Der symbolische Gehalt einer Tür wird auch klar durch die Tatsache, dass sie vom Gebäude losgelöst wurde und als Triumphbogen autonom existieren konnte.
28In den drei verschiedenen Raumauffassungen im Abendland bestanden auch verschiedene Beziehungen zwischen innen und außen (Abbildung 6). In der ersten Epoche wurde Architektur als Skulptur verstanden, der Innenraum hatte keine Bedeutung und folglich bestand auch keine wichtige Beziehung zwischen außen und innen. In der zweiten Epoche wurde der Innenraum zum zentralen Anliegen der Architektur. Es gab nur ein innen oder ein aussen, ein „entweder/oder“. Die Funktion der Öffnungen in der Außenwand beschränkte sich auf Ein- und Ausgang sowie den notwendigen Lichteinlass. Erst in der dritten Epoche, ab dem Beginn des 20. Jahrhunderts, wurden innen und außen verbunden, wurde die Verbindung intensiv und wurden die Grenzen zwischen ihnen diffus und komplex.
29Die Anordnung und Gestaltung der Verbindungen zwischen innen und außen ergibt sich aus dem Widerspruch, einerseits einen geschützten Raum von der Umwelt abzutrennen, andererseits aber zwischen den beiden Verbindungen zu schaffen, da sie beide zum Lebensraum des Menschen gehören. Dieser Widerspruch wird deutlich, wenn wir den Charakter von Innen- und Außenraum vergleichen: Während der erste stets begrenzt und abgeschlossen ist, sei es auch nur durch ein transparentes Glas, ist der andere unendlich groß. Dieser Gegensatz wird noch deutlicher, wenn wir uns einen einfachen Raum von innen und von außen vorstellen: zum Beispiel einen Würfel, gebildet aus sechs quadratischen Flächen. Sowohl von innen wie von außen ist der Würfel als solcher erkennbar und trotzdem ist die Wahrnehmung völlig verschieden, je nachdem von wo aus wir ihn betrachten: Im Inneren umhüllen uns die Wände, sie setzen klare Grenzen, von außen erleben wir den Würfel als abgeschlossenen Körper oder als Skulptur die uns gegenübersteht, als Objekt in seiner Umgebung.
4. Der Einfluss der Umgebung auf die Raumwahrnehmung
30Die Beziehung zwischen innen und außen ist nicht nur eine Frage der Art der Öffnungen in der Außenhaut, wichtig ist auch hier die nähere und weitere Umgebung. Die Öffnungen ermöglichen einerseits einen Lichteinfall, gewähren andererseits aber auch einen Ausblick. Je nach ihrer Größe dehnt sich der Innenraum optisch aus, die nähere Umgebung wird wie zu einem Teil des erlebten Innenraumes (Abbildung 7).
31Abb. 7: Die Bedeutung der Umgebung für das Erleben des Raumes.
32Die Umgebung spielt aber auch im weiteren Sinn bei der Wahrnehmung unserer gebauten Umwelt und bei der Wahrnehmung einzelner Objekte eine zentrale Rolle. In unserer Vorstellung sind Gegenstände meist mit einer bestimmten Umgebung, mit einem bestimmten Ort, verbunden. Bei Immobilien ist dieser Zusammenhang noch viel stärker: Den Eiffelturm „sehen“ wir immer an der Seine in Paris. Architektur erscheint uns nicht nur in der Realität eng verbunden mit ihrer Umweit, selbst in unserer Erinnerung ist beides unzertrennlich. Deshalb sind wir irritiert, wenn wir ein bekanntes Gebäude plötzlich an einem anderen Standort sehen, wie etwa den Eiffelturm in Las Vegas (Abbildung 8). Es wurde nachgewiesen, dass zwei identische Bauten in verschiedenem Kontext verschieden wahrgenommen werden (17 / 24). Das Gebäude steht in einem ständigen Dialog mit seiner Umgebung. Daraus folgt, dass das Erleben eines Gebäudes sich nicht ausschließlich auf den Bau selbst beschränkt, sondern auch seine Umgebung miteinbezogen wird. Damit wird deutlich, welchen immanenten Einfluss die Umwelt auf die Wahrnehmung von Architektur hat, und wie wichtig deshalb das Einbeziehen der Umgebung in die Planung ist.
33Abb. 8: Links: Der Eiffelturm in Paris. Rechts: Hotel Paris, Las Vegas, USA.
5. Persönliche Raumzonen
34Nebst den gebauten, immobilen Räumen, die optisch durch ihre Begrenzungen wahrnehmbar sind, existieren um jeden Menschen andere unsichtbare Zonen, die für sein Befinden und sein Verhalten auch sehr wichtig sind. Sie liegen konzentrisch um jeden Menschen und wenn sich dieser bewegt, bewegen sie sich mit ihm. Der amerikanische Anthropologe und Ethnologe Edward Hallunterschied vier verschiedene solche Raumzonen: die intime Zone, die persönliche Zone, die soziale Zone und die öffentliche Zone (18) (Abbildung 9). Was geschieht in diesen verschiedenen Zonen, was erleben wir in ihnen?
35Überschneiden sich die intimen Zonen zweier Menschen so besteht Körperkontakt. Die Wahrnehmung geschieht dann nicht mehr primär über die visuellen Sinnesorgane, sondern mehr über Tast- und Geruchssinn. In einem solchen Fall bestehen drei verschiedene Möglichkeiten, drei verschiedene Situationen einer solchen Annäherung, angenehme aber auch unangenehme. Bei Menschen, die sich gut kennen, die sich auch im übertragenen Sinn sehr nahe sind, geschieht eine solche Begegnung freiwillig.
36Abb. 9: Die 4 unsichtbaren Zonen um den Menschen (nach Edward Hall)
37Die zweite Möglichkeit ist Körperkontakt im Kampf, sei es aus sportlichem Grund, zum Beispiel bei einem Ringkampf, oder weil zwei Personen verfeindet sind. Die dritte Möglichkeit kann sich beim Arzt ergeben. Der Arzt ist normalerweise weder enger Freund noch Feind und trotzdem muss er bei einer medizinischen Untersuchung manchmal in die intime Zone eines Patienten eindringen.
38Wenn der Abstand zwischen zwei Menschen 45 bis 120 Zentimeter beträgt, begegnen sich diese in ihren persönlichen Zonen. Es besteht ein direkter Kontakt zwischen ihnen. Solche Situationen ergeben sich zum Beispiel in einem Aufzug, hier ist die Begegnung nicht immer freiwillig. Menschen, welche sich freiwillig in der jeweils persönlichen Zone des Andern begegnen, haben meistens eine Beziehung zueinander.
39Beträgt der Abstand zwischen zwei Individuen 120 bis 360 Zentimeter, so überschneiden sich wahrscheinlich ihre sozialen Zonen. Eine solche Begegnung bedeutet nicht, dass die beiden miteinander etwas zu tun haben, sie können sich aber auch nicht ganz ignorieren. Solche Situationen ergeben sich zum Beispiel in einem Restaurant oder in einem kleineren Einkaufsladen.
40Bei einer Begegnung im öffentlichen Raum besteht kein direkter Zusammenhang mehr zwischen den einzelnen Personen, sie haben nichts mehr miteinander zu tun und ihr Zusammentreffen ist rein zufällig.
41Die Größe der verschiedenen Zonen, die Größe der Kreisradien, können variieren, sie hängen von der Art der Persönlichkeit ab, sind aber auch situationsabhängig und kulturbedingt. Befindet sich zum Beispiel ein Amerikaner im Aufzug mit einer anderen Person, so gebietet ihm die Höflichkeit, mit diesem Individuum Kontakt aufzunehmen, da sich für ihn ihre beiden persönlichen Zonen überlappen. Ein Japaner hingegen wird in der gleichen Situation sein Gegenüber ignorieren. Für ihn ist die persönliche Zone viel enger und er sieht deshalb keine Notwendigkeit, mit der anderen Person zu kommunizieren.
42Die zwischenmenschlichen räumlichen Beziehungen bewirken ein kompliziertes System von sich nähern, fliehen, ausweichen, treffen, umgehen usw. Der gebaute architektonische Raum darf deshalb nicht nur auf ein mathematisch festgelegtes Nutzungsprogramm Rücksicht nehmen, sondern er muss alle Arten dieser sozio-psychologischen Beziehungen berücksichtigen. Aufgabe der Architektur ist es auch, räumliche Voraussetzungen zu schaffen, so dass der Mensch sich in den gebauten Räumen so bewegen kann, dass gewünschte Begegnungen möglich sind und unangenehme verhindert werden, dass Überschneidungen der Zonen verschiedener Menschen nur dort stattfinden wo sie gewünscht werden (Abbildung 10). Dies ist sowohl im größeren Maßstab notwendig, zum Beispiel in einem Dorf oder einer Stadt, aber auch bei der einfachen Gestaltung einzelner Räume.
43Wir haben gesehen, dass der Arzt bei einer medizinischen Untersuchung manchmal in die intime Zone des Patienten eindringen muss, eine Situation, die für diesen meist unangenehm ist. Der Untersuchungsraum sollte deshalb so gestaltet sein, dass der Patient im übertragenden Sinn „die Flucht ergreifen kann“. Der Raum sollte eine gewisse Grösse haben, er sollte nicht zusätzlich einengend wirken, und Fenster sollten einen Ausblick gewähren.
44Untersuchungen haben ergeben, dass das Maß an zwischenmenschlichen Aggressionen in großen Wohnsiedlungen auch mit der Breite von Korridoren in diesen Wohnblocks zusammenhängt. Menschen, die sich nicht kennen, dringen beim Kreuzen in zu engen Gängen in den persönlichen Bereich des andern ein. Da keine Ausweichmöglichkeiten bestehen, kann dies zu Aggressionen führen.
45Abb. 10: Die Menschen (Punkte, vgl. Abbildung 9) mit ihren verschiedenen unsichtbaren Zonen in einer gebauten Umwelt.
6. Einfluss der Persönlichkeitsstruktur und des soziokulturellen Hintergrundes auf die Wahrnehmung
46Im Laufe seiner Entwicklung baut sich jeder Mensch ein persönliches räumliches Bezugssystem auf. Er weiß wie was wo läuft und je nach Situation weiß er wie er sich verhalten muss, entsprechend seinem Bezugssystem.
47Bei der Wahrnehmung und Verarbeitung von komplexeren Sachverhalten spielen nebst den Reizen der Sinnesorgane auch die momentane psychische Verfassung, die Persönlichkeitsstruktur, welche durch verschiedene Erfahrungen und Gegebenheiten in der Vergangenheit geformt wurde, und Erbanlagen sowie der soziokulturelle Hintergrund der Person eine entscheidende Rolle.
48So setzen zum Beispiel Menschen verschiedener Kulturen ihre Sinne verschieden ein und leben so in verschiedenen Sinneswelten, was wiederum bedeutet, dass sie ihre Umwelt verschieden wahrnehmen (19). Zum Beispiel findet ein Mitteleuropäer seinen Weg in seiner Umgebung ganz anders als ein Eskimo. Der Erste orientiert sich vor allem mit dem Auge. Dies würde den Eskimo in der Eiswüste nicht weit führen, er verlässt sich deshalb eher auf den Geruch- und Tastsinn. Die verschiedenen Windarten kann er riechen, mit den Füssen ertastet er die Beschaffenheit von Schnee und Eis.
49Das jeweils vorherrschende kulturelle Modell beeinflusst auch unser Raumempfinden. Der gotische Baustil, heute ein Eckpfeiler der europäischen Kulturgeschichte, wurde lange Zeit von vielen als barbarisch und unschön empfunden. Mitgeprägt wurde diese Meinung auch von Giorgio Vasari, einem bedeutenden Architekten des 16. Jahrhunderts: „Dieser verfluchten Gestaltungsweise folgen auch jene vielen kleinen Gehäuse, von denen die Gebäude nach allen Seiten und in jeder Partie über und über bedeckt sind. [...] Erst recht in solcher Verschachtelung besitzen diese in sich selbst labil wirkenden Gehäuse keinerlei Standfestigkeit, und sie scheinen viel eher aus Papier, denn aus Stein oder Marmor gebildet“ (20). Goethe war 1772 der erste, der sich beim Anblick des Strassburger Münsters wieder positiv über die Gotik äusserte: „Ein ganz großer Eindruck füllte meine Seele, den, weil er aus tausenden harmonisierenden Einzelteilen bestand, ich wohl schmecken und geniessen, keineswegs aber erkennen und erklären konnte. [...] Wie oft bin ich zurückgekehrt, von allen Seiten, aus allen Entfernungen, in jedem Lichte des Tages zu schauen seine Würde und Herrlichkeit“ (21).
50Experimentell wurde der Zusammenhang zwischen einer architektonischen Situation und der Gefühlsreaktion von Menschen anhand deren Pupillengröße untersucht. Dabei ergab sich, dass Testpersonen verschiedener Kulturen auch verschieden auf bestimmte Formen reagieren. Das heisst: Gewisse Formen rufen in verschiedenen Kulturen verschiedene Gefühlsreaktionen hervor. Damit ist nur bewiesen, dass die Art unserer Umgebung, also die Architektur und ihr Kontext, verschiedene Gefühle hervorrufen kann und somit unsere Handlungsweise beeinflusst, nicht aber, welche Art von Umwelt welche Art von Gefühlen hervorruft. Interessant ist dabei die Feststellung, dass die Pupillenveränderung und damit die Gefühlsreaktion bei Architekten grösser ist als bei den übrigen Versuchspersonen (22). Dies resultiert wohl aus der Tatsache, dass das Auge eines Architekten durch seine Erfahrung sensibilisierter ist als das anderer Menschen.
51Der britischen Psychologe Hans Jürgen Eysenck behauptet, gestützt auf Carl Gustav Jung, dass der introvertierte Mensch eher seine Gefühle durch den Verstand kontrolliert als ein extrovertierter Mensch (23). Beim Introvertierten löst bereits eine geringe Informationsmenge Reaktionen aus, während sich der Extrovertierte schneller langweilt. Der erste nimmt Komplexität eher wahr als der zweite und ist deshalb auch schneller übersättigt. Er wird eine Architektur bevorzugen, bei der eine gewisse Ordnung und Ausgewogenheit vorherrscht. Auch der schweizer Psychologe Jean Cardinet versucht anhand von vier Typen verschiedene Wahrnehmungspräferenzen zu unterscheiden (24). Die zusammengefassten Erkenntnisse von Burt und Cardinet lauten wie folgt: Der stabile und introvertierte Typ bevorzugt eine sichtbare Ordnung und lehnt Bewegung und emotionellen Ausdruck eher ab. Er steht dem Objekt mit intellektueller Distanz gegenüber. Der unstabile introvertierte Typ bevorzugt abstrakte Darstellungen, die eine gewisse Ordnung enthalten. Der stabile extrovertierte Typ mag keine Abstraktion oder zu einfache Entwürfe, Funktionalität steht im Vordergrund.
52Viele Aspekte der Architektur, wie zum Beispiel Bauphysik, Statik und Kosten, können genau definiert und rational behandelt werden. Beim Entstehen eines Bauprojektes, bei der Planung eines Gebäudes, werden oft vor allem diese Themen besprochen und eingehend behandelt. Der mathematische Raum ist wichtig, seine Größe und Ausstattung, Funktion und Belichtung. Dabei wird fälschlicherweise davon ausgegangen, dass der Mensch als Nutzer dieser Räume ein einheitliches Wesen ist. Es wird vergessen, dass jeder Mensch ein Individuum ist, und dass selbst jeder einzelne Mensch nicht in jeder Situation immer gleich reagiert. Dies trotz der Tatsache, dass die Aspekte des erlebten Raumes oft wichtiger sind als die des mathematischen Raumes.
53Abbildungen und kleinere Textabschnitte stammen aus folgendem Buch:
54Jörg Kurt Grütter, Grundlagen der Architektur-Wahrnehmung, Wiesbaden, Springer Vieweg, 2015.
Notes
Para citar este artículo
Acerca de: Jörg Kurt Grütter
Fachhochschule Bern