Ist die Wissenschaft das Maß aller Dinge? Eine phänomenologische Kritik an Sellars’ Ansatz
Abstract
In view of the incompatibility between scientific and manifest image one can either consider the scientific world as true and the sensuous world as merely subjective or consider the latter as true and the former as a subjective construction. Sellars holds the first position, namely scientific realism. By relying on Husserl, who holds the second position, I try to show that the first position has absurd consequences and is idealistic. For the measure of all things is not science, but perception.
Was die Dinge sind, die Dinge, von denen wir allein Aussagen machen, über deren Sein oder Nichtsein, Sosein oder Anderssein wir allein streiten und uns vernünftig entscheiden können, das sind sie als Dinge der Erfahrung. Sie allein ist es, die ihnen ihren Sinn vorschreibt. (Husserl, Ideen I.)
Das Wirkliche in seiner Wirklichkeit oder als Wirkliches ist das Wirkliche als Objekt des Sinns, ist das Sinnliche. Wahrheit, Wirklichkeit, Sinnlichkeit sind identisch. Nur ein sinnliches Wesen ist ein wahres, ein wirkliches Wesen.(Feuerbach, Grundsätze der Philosophie der Zukunft.)
1. Einleitung
1In Empiricism and the Philosophy of Mind formuliert Sellars eine These, welche eine Entfaltung vom herrschenden Ansatz neuzeitlicher und zeitgenössischer Philosophie darstellt: „in the dimension of describing and explaining the world, science is the measure of all things, of what is that it is, and of what is not that it is not“ (Sellars 1963a, 173). Nun, die Wissenschaft lehrt, dass „the common sense world of physical objects in Space and Time is unreal – that is, […] there are no such things“ (ebd.). Anders gewendet: „The framework of common sense is radically false – i.e. there really are no such things as the physical objects and processes of the common sense framework“ (Sellars 1965, 189). Das manifeste Weltbild, d.h. der alltägliche kategoriale Rahmen ist daher abzulehnen zugunsten des wissenschaftlichen Weltbildes, d.h. des wissenschaftlichen kategorialen Rahmens.
2Ich möchte aufzeigen, dass Sellars’ These grundverkehrt ist, weil die Annahme der Wahrheit des wissenschaftlichen Weltbildes zum Zusammenbruch des wissenschaftlichen Weltbildes selbst führt. Ich werde also die These der von Sellars (1963a, 8, 20f.) kritisierten philosophia perennis verteidigen: Das manifeste Weltbild ist wahr und das wissenschaftliche Weltbild kann das manifeste nicht ersetzen, ohne seine Grundlagen zu zerstören. Man muss demgemäß nicht subjektive und vorübergehende Erklärungen der Erfahrungswelt ausarbeiten, sondern deren sachliche und invariante Wesensstruktur beschreiben.
3Anders als Sellars (ebd. 7, 19) meint, zeichnet die Ansetzung unwahrnehmbarer Entitäten zur Erklärung des Verhaltens wahrnehmbarer Dinge keineswegs das wissenschaftliche Weltbild, sondern jedes mythische Denken aus. Denn im Gegensatz zum manifesten Weltbild im Sinne der Erfahrungswelt, d.h. der Welt, so wie sie in der Erfahrung gegeben ist, ist das gängige Weltbild dem wissenschaftlichen Weltbild homolog, da es seit jeher durch den Glauben an unerfahrbare Wesen als Erklärungsgrund der Phänomene geprägt ist. Wie van Fraassen bemerkt, liegt nämlich dem gewöhnlichen Denken der Aberglaube zugrunde, welcher die Welt mit einer Fülle neulich postulierter Entitäten ausstattet: „Its driving force is the demand for explanation and the satisfaction derived therefrom. […] Science is bridled superstition“ (van Fraassen 1999, § 9).1 Mach spricht treffend von „atomistischer Naturmythologie“, die die animistische abgelöst hat, und von einem „Hexensabbat von abenteuerlichen modernen Vorstellungen“, da Atome, Ionen, Elektronen usw. „Ausgeburten der Phantasie“ sind (Mach 1905, 106f.).
4Die Ablehnung des Glaubens an die theoretischen Entitäten der Wissenschaft entspringt der aufklärerischen Abneigung gegen die idealistischen bzw. theologischen Superstitionen, mithin dem echten Realismus und Materialismus, der nichts als Empirismus ist.2
2. Der wissenschaftliche Realismus
5Sellars’ These liegt der wissenschaftliche Realismus zugrunde, der durch den Schluss auf die beste Erklärung die gelingenden wissenschaftlichen Theorien als wahr und die von ihnen postulierten Entitäten als wirklich ansieht (Sellars 1963a, 91, 97 Anm. 1). Sellars übernimmt also
the view that the perceptual world is phenomenal in something like the Kantian sense, the key difference being that the real or „noumenal“ world which supports the „world of appearances“ is not a metaphysical world of unknowable things in themselves, but simply the world as construed by scientific theory (ebd. 97).
6Demnach stimmt er mit Kant nur darin nicht überein, dass „it is ,scientific objects‘ rather than metaphysical unknowables, which are the true things-in-themselves“ (Sellars 1968, 143).
7Solcher Ansatz fällt mit der Weltanschauung des gesunden Menschenverstandes zusammen. Denn die meisten Menschen meinen, dass die Wissenschaft eine treue Beschreibung der Wirklichkeit liefert und die sinnlich gegebene Welt eine bloß subjektive Erscheinung ist. Das ist das Ergebnis der „Unterschiebung der mathematisch substruierten Welt der Idealitäten für die einzig wirkliche, die wirklich wahrnehmungsmäßig gegebene, die je erfahrene und erfahrbare Welt – unsere alltägliche Lebenswelt“ (Hua VI, 49), die eben nichts ist als die „Welt der Sinnlichkeit“ (ebd. 360). „Das Ideenkleid ,Mathematik und mathematische Naturwissenschaft‘ […] befasst alles, was wie den Wissenschaftlern so den Gebildeten als die ,objektiv wirkliche und wahre‘ Natur die Lebenswelt vertritt, sie verkleidet“, weshalb „wir für wahres Sein nehmen, was eine Methode ist“ (ebd. 52), und subjektive Konstruktionen als ein objektiv Bestehendes ansehen.
8Wir neigen zu glauben, dass wissenschaftliche Theorien wahr sind und dass die von ihnen angesetzten Entitäten wirklich bestehen, sofern solche Theorien gelingen, d.h. sofern sie das Vermögen haben, die Phänomene zu erklären und vorauszusehen. Würden sie gelingen, ohne wahr zu sein, hätten wir den Eindruck, vor einem Wunder zu sein. Das Hauptargument des wissenschaftlichen Realismus ist gerade das Wunderargument. Es wird jedoch von der Geschichte der Wissenschaft widerlegt, da es zahlreiche reife wissenschaftliche Theorien gibt, die gelingen (und die manchmal sogar jenseits derjenigen Phänomene gelingen, für deren Erklärung sie ausgearbeitet wurden), aber als falsch angesehen werden.3 Die Geschichte der Wissenschaft ist demgemäß auch die Geschichte desjenigen Wunders, das die meisten Realisten für die einzige Alternative zu ihrer Erklärung vom Gelingen der Wissenschaft halten. Wie van Fraassen (1980) bemerkt, ist der Schluss aus dem Gelingen einer auf unbeobachtbare Entitäten sich beziehenden Theorie auf deren Wahrheit insofern unbegründet, als das Gelingen solcher Theorie zwar impliziert, dass sie gewisse empirische Zusammenhänge zwischen den Phänomenen erfasst und somit empirisch angemessen ist, aber nicht, dass sie wahr ist und somit die von ihr angesetzten Entitäten wirklich sind. Erklärungsvermögen impliziert nicht Wahrheit, wie schon Descartes (1905, 327) hervorhebt.4
3. Der phänomenologische Ansatz
9Husserls Lehrer Franz Brentano vertrat einen Ansatz, der demjenigen Sellars’ ähnlich ist. Indem er das wissenschaftliche Weltbild übernahm (Brentano 1924, 173), behauptete Brentano, dass sinnliche Inhalte „nur phänomenal und intentional“ bestehen (ebd. 129) und damit „ein bloßer Schein“ (ebd. 250) oder „bloße Phänomene“ sind (ebd. 14): Die Gegenstände der äußeren Wahrnehmung „bestehen nachweisbar nicht außer uns“ (ebd.), denn sie sind „nicht Dinge, die wahrhaft und wirklich bestehen“, sondern „Zeichen von etwas Wirklichem, was durch seine Einwirkung ihre Vorstellung erzeugt […]. An und für sich tritt das, was wahrhaft ist, nicht in die Erscheinung, und das, was erscheint, ist nicht wahrhaft“ (ebd. 28). Brentano betrachtete die Existenz der Außenwelt als eine auf der Wahrscheinlichkeitsrechnung beruhende Hypothese, indem er das Wunderargument vorwegnahm: Dass das Zutreffen aller Voraussetzungen ein bloßer Zufall sei, ist sehr unwahrscheinlich (Brentano 1980, 154ff.).
10Die Phänomenologie entspringt der Verweigerung solcher idealistischen Mystik. Gegen das Vorurteil, dass die Erfahrungswelt keine wahrhaft seiende sei (Hua VI, 397), sowie gegen die platonische, christliche und rationalistische „Degradation der Sinnlichkeit“ (Hua Mat III, 170) bezeichnet Husserl das Reale als das Sinnliche (ebd. 168, 171) und die Erfahrungswelt als „die eine wirklich seiende“ und „einzig wahre Welt“ (Hua XXIX, 140). Das sinnlich Gegebene ist keine Anzeige des wahren Seins, sondern das wahre Sein selbst.
11Erkenntnis schöpft ihr Recht erst aus Erfahrung (Hua XXXV, 289; Hua XXXII, 142), die das „Maß aller jeweiligen sonstigen Meinungen“ darstellt (Hua XXXIX, 685), insofern „Erfahrung nur durch Erfahrung bewährbar und aufhebbar ist“ (ebd. 231), weshalb jede Infragestellung einer Erfahrung das Vertrauen auf Erfahrung voraussetzt (Hua XVII, 164).
Erfahrung ist die Bewährungsquelle und die Entwährungsquelle, Erfahrung enthüllt den Schein, das Nichtige, das aus der seienden Welt Fortzustreichende. Und Erfahrung entscheidet letztlich den Zweifel, ob etwas ist oder nicht ist, sie ist die Selbstbezeugung des Seienden – mag diese Selbstbezeugung auch nachträglich durch neue und „stärkere“ Selbstbezeugungen über-zeugt werden (Ms. A VII 20/38b).
12Man kann zwar jede einzelne sinnliche Erscheinung in Frage stellen, aber nur aufgrund von anderen einzelnen sinnlichen Erscheinungen, die in Widerstreit mit ihr stehen. Demgemäß kann man nicht das sinnlich Erscheinende als solches, d.h. alle sinnlichen Erscheinungen in eins in Frage stellen, weil dann der Geltungsboden entfällt, der die Infragestellung ermöglicht.5
13„Natur hat weder Kern noch Schale“, wie Goethe in Ultimatum sowie in Allerdings. Dem Physiker schreibt. Die Welt besitzt keine subphänomenale, sondern eine sinnliche Struktur, die in der sachlichen Eigenart gegebener Inhalte gründet. „Die Dinge ihrem Sein und Wesen nach haben […] keine Mysterien“, denn obwohl sie im Lauf der Erfahrung immer neue Beschaffenheiten bieten, sind sie „etwas Gegebenes, etwas Wahrnehmbares, als das, was sie sind, Fassbares und nichts Verstecktes“, weil „so geartetes Sein nur so zur Gegebenheit gebracht werden kann“ (Hua XIII, 10). Insofern Erfahrung „der Modus der Selbsthabe von Naturobjekten ist“ und sich erst durch Erfahrung berichtigen kann, ist es verkehrt, sie durch ihre prinzipielle Unvollkommenheit, d.h. durch ihr Angewiesensein auf weitere Erfahrung zu verwerfen und das wahre Sein der Dinge in ein Jenseits der möglichen Erfahrung, d.h. in ein Zweites neben dem gegebenen Sein zu setzen (Hua XVII, 170; Hua XXXV, 276f.; Hua XXXVI, 67f.).
14Die Wirklichkeit ist das Korrelat der einstimmigen Erfahrung, die sich zwar als Schein erweisen kann, aber nur durch weitere Erfahrung. Der Schein besagt nämlich, dass der Lauf der einstimmigen Erfahrung ein anderer ist, als er aus der bisherigen Erfahrung vorgezeichnet war (Hua XV, 49). Ähnlich behauptet Lewis: „the real cannot be distinguished from the unreal by any relation between the idea in the mind and an independent object, but only by some relation within experience itself“ (Lewis 1929, 28), denn die täuschende Erfahrung unterscheidet sich von der wahrhaften nur dadurch, dass „those sequences of possible experience which are implicitly predicted in the concept of the object would fail to eventuate in the one case but would be realized in the other“ (ebd. 143).
15Die notwendige Relativität des Seinssinnes der Welt übersteigen und ihr Sein begründen zu wollen, führt zu einer „Mystik“ (Hua XXIX, 267). Die Andersbestimmbarkeit ist nämlich eine ontologische Wesensbeschaffenheit des Realen, das insofern eine endgültige Bewährung prinzipiell ausschließt, als es an sich sinnlich ist: Da es „auf mögliche Bewährung angelegt“ ist, „ist das wahre Sein eines Dinges a priori ein ewig vorbehaltliches“ (Ms. B I 13/63b).
16Weil „das in der Wahrnehmung wahrgenommene Ding das Ding selbst ist in seinem selbsteigenen Dasein“ (Hua XVII, 287), ist Wahrnehmung kein mittelbares Bewusstsein. Mittelbare Vorstellungen (begriffliche sowie Erinnerungs- und Bildvorstellungen) sind auf unmittelbaren Vorstellungen (Wahrnehmungen) fundiert. Diese können jene berichtigen, selbst aber nicht durch jene, sondern nur durch sich selbst berichtigt werden. Deswegen fungiert Wahrnehmung als Ausweisungsquelle der Erkenntnis, obwohl sie täuschen kann. Denn eine Wahrnehmung kann sich als Täuschung erweisen lediglich durch eine andere mit ihr in Widerstreit stehende Wahrnehmung, die zeigt, was an Stelle der Täuschung wirklich ist (ebd.). „Nur Wahrnehmung hebt Wahrnehmung aus dem Sattel“ (Hua XXXVI, 40). Demzufolge ist Wahrnehmung „nichts zu Begründendes, sie ist dafür selbst Grund gebend“ (Hua XXIV, 8).
17Die Existenz eines von der aktuellen Erfahrung Unabhängigen ist mit der realen Möglichkeit äquivalent, es zu erfahren. Reale Gegenstände existieren, auch wenn niemand sie erfährt, aber sie sind immerhin erfahrbar (Hua XXXVI, 191, 152), also von der faktischen, nicht aber von der möglichen Erfahrung unabhängig. „Dem Sein an sich des Dinges ein prinzipiell unerfahrbares Sein zu substruieren, ist Unsinn“ (ebd. 32). Sofern es „seinen Gehalt möglicher Erfahrungen hat als Sein-an-sich“ (Hua XXXII, 63), liegt das wirkliche Ding innerhalb des vorgezeichneten raumzeitlichen Horizonts und ist Gegenstand möglicher (wenngleich faktisch nicht realisierbarer) Wahrnehmungen. Denn prinzipiell kann ich bis zum Wahrnehmungsfeld kommen, in dem das Ding aktuell Erfahrenes wäre: Obwohl ich es faktisch nicht erfahren kann, besteht ein prinzipieller Zusammenhang möglicher Erfahrung, der mir zulässt, dessen Sein aus meiner aktuellen Erfahrung zu rechtfertigen (Hua XXXVI, 115). Die leere oder ideale Möglichkeit ist hingegen eine bloße Fiktion, d.h. „etwas Grundloses, ebenso wie die Existenz von Satyrn oder Nymphen“ (ebd. 119), da sie nicht durch die aktuellen Wahrnehmungen motiviert ist.
18Zwar kann es Dingerscheinungen geben, die unseren Sinnen unzugänglich sind. Aber im Reden von durchaus unvergleichbaren und zusammenhangslosen Erkenntnisweisen fehlt, „was die Einheit des Begriffs der Erkenntnis aufrechterhält“. Der Gedanke höherer Wesen, die über für uns undenkbare Erkenntnisarten verfügen, ist nur unter der Annahme sinnvoll, dass solche Wesen „die Identität der von uns unvollkommen erkannten Dinge mit den von ihnen vollkommener erkannten“ einsehen können. Obwohl also ihre Erkenntnisarten aus faktischen Gründen bei uns nie auftreten und wirklich vorstellbar sein können, muss die prinzipielle Möglichkeit einer Erweiterung unserer Erkenntnis um ihre Erkenntnis bestehen (Ms. K II 4/109a-b).
19Selbst nach Lewis ist die Setzung der Wirklichkeit von etwas mit der Setzung der Möglichkeit einer Erfahrung von ihm äquivalent. Solche Erfahrung kann zwar von unserer verschieden sein, aber sie muss ausdenkbar sein und eine einsehbare Beziehung mit unserer aufweisen. Die Grenzen der Möglichkeit der Erfahrung sind nämlich die Grenzen der sinnhaften Fassung und das jenseits unserer Fassungsvermögen Liegende hat keinen Sinn, weil es auch nicht formulierbar ist (Lewis 1929, 217ff.). Derartige Gleichstellung von Wirklichkeit und Erfahrbarkeit impliziert keinen Idealismus:
it implies denial only that there is any objective thing or fact which is intrinsically unknowable – which could not be evidenced to any actual or even any supposititious observer. […] Our commitment to objective reality, independent of being experienced, is signalized […] in our assertion of the observability of what is not observed; of the verifiability of what remains unverified; or possibilities of experience which never become actual (Lewis 1946, 229f.; vgl. 200ff.).
20Die Frage nach der Substanz ist zu beantworten, ohne zu mythologischen Entitäten zu greifen, seien es Atome oder Schildkröten, die Elefanten tragen. Ein Ding besteht „nur aus den Eigenschaften […], aber diese sind nicht ein Bündel, sondern ein Ganzes“ (Stumpf 1939/40, 28), das unabhängig vom Eingreifen des Subjekts sinnlich gegeben ist. Die Substanz löst sich demnach nicht in eine bloße Menge von Qualitäten auf, aber besteht auch nicht in einem jenseits der Erfahrung Liegenden, sie ist vielmehr die „Einheit des Realen“ (Hua XLI, 276). Denken wir also die sinnlichen Eigenschaften weg, schaffen wir die Substanz weg, die ihr sachlicher Zusammenhang ist.6
21Die Welt selbst ist ein Ganzes (ebd. 261, 320, 377) und ihre sinnliche Wesensstruktur stellt die sachliche Bedingung der Wissenschaft dar, da Erfahrung nur insofern die Anwendung der Logik und Mathematik zulässt, als in ihren Gegebenheiten „Rationalität“, d.h. apriorische Gesetzmäßigkeit liegt (Hua Mat IX, 439).7
4. Das Verhältnis von Theorie und Erfahrung und die Aufgabe der Philosophie
22Wie Duhem bemerkt, zerfällt jedes physikalische Experiment in zwei Teilen: „in der Beobachtung gewisser Tatsachen“, die keine Kenntnis der Physik fordert, sondern erst „Aufmerksamkeit und aufnahmsfähige Sinne“, und „in der Interpretation der beobachteten Tatsachen“, die die Kenntnis und Anwendung der einschlägigen Theorien voraussetzt.
Jemand kann, wenn er gesunde Augen hat, die Bewegungen eines Lichtstreifens auf einem durchsichtigen Maßstab verfolgen, wie er nach rechts oder nach links geht, wie er an diesem oder jenem Punkt stillsteht, er braucht dazu kein großer Gelehrter zu sein. Wenn er aber die Elektrodynamik nicht kennt, wird er das Experiment nicht vollenden, wird er den Widerstand der Spule nicht messen können (Duhem 1978, 189f.).
23Nur wenn man zwischen dem sinnlich Gegebenen und seiner theoretischen Bestimmung unterscheidet, kann man dem Verhältnis der Wissenschaft zur Erfahrung gerecht werden und den Zusammenbruch der ganzen Erkenntnis vermeiden. Die fehlende Scheidung von der Ebene der Erfahrung und der Ebene der Theorie führt nämlich dazu, dass das invariante explanandum der Wissenschaft vernichtet wird. Dadurch wird aber die Wissenschaft selbst vernichtet, die keinen Boden für ihre Erklärungen, Ansetzungen und Verifizierungen mehr hat. Wären die Phänomene von den Theorien nicht unterscheidbar, könnte man nicht behaupten, dass eine Theorie mehr Erklärungsvermögen als eine andere hat bzw. die Phänomene besser erklärt. Damit Theorien das Verhalten wahrgenommener Dinge erklären können, müssen diese unabhängig von jenen beobachtbar sein. Da vorwissenschaftliche Erfahrung aus sinnlichen Inhalten und Strukturen besteht, die vor dem Eingreifen des Subjekts gegeben sind, ist sie keineswegs mit Theorie beladen. Die Bewegungen eines Lichtstreifens auf einem durchsichtigen Maßstab verfolgt auch eine Katze, die weder über die Begriffe von Bewegung, Lichtstreifen usw. noch über Theorien verfügt.
24Vor jedem theoretisierenden Denken liegt ein unmittelbar Gegebenes, das alle Theorien voraussetzen und ohne das sie keinen Sinn haben können (Hua III, 45; Hua XXXV, 476). Die Philosophie hat demnach eine deskriptive Aufgabe. Denn sie kann den Sinn, den die Welt aus der Erfahrung hat, enthüllen, aber nicht verändern (Hua I, 177), und soll nicht eine wahrhaftere Welt erschließen, sondern den natürlichen Weltbegriff entfalten, wie Avenarius lehrt: Da alle Theorien sich auf die vor aller Theorien gegebene Welt beziehen und einen berechtigten Sinn nur haben können, wenn sie den Sinn der unmittelbaren Gegebenheit nicht verletzen, gilt es, „die Welt zu beschreiben, so wie sie sich mir unmittelbar gibt bzw. die Erfahrung zu beschreiben hinsichtlich des Erfahrenen als solchen“, um den „allgemeinen Sinnesrahmen der Welt in unmittelbarer Erfahrung“ herauszustellen (Hua XIII, 196f.).8
25Auch Lewis zufolge hat die philosophische Wahrheit nur in der Anwendung auf Erfahrung ihre Bedeutung und jedes auf Erfahrung angewandte Prinzip soll in Form der Erfahrung formuliert werden (Lewis 1929, 17, 12). Dahingehend tadelt er „that philosophic legerdemain which, with only experience for its datum, would condemn this experience to the status of appearance and disclose a reality more edifying“, indem er eine über alle Erscheinungen hinausreichende und ihnen zugrundeliegende Wirklichkeit als „a kind of philosophical ignis fatuus“ bezeichnet (ebd. 9). Die Aufgabe der Philosophie ist nicht die Suche nach einer Wirklichkeit jenseits der Erfahrung, sondern die Bestimmung der Maßstäbe, wonach das Wort „real“ richtig angewandt wird: „It will seek to determine the nature of the real […] purely by critical consideration of what does not transcend ordinary experience. That is, it will seek to define ,reality‘, not triangulate the universe“ (ebd. 10). Es geht jedoch nicht darum, die Prinzipien des common sense genau auszudrücken, sondern darum, eine bereits in den Bau der Erfahrung eingetretene Deutung zu verfeinern und zu berichtigen (ebd. 19).
26Sofern sie die Geltung der Erfahrung implizite voraussetzen, die sie ausdrücklich leugnen, sind naturwissenschaftliche Theorien selbstwidersprüchlich und können keine treuen Beschreibungen der Wirklichkeit darstellen. Letztere ergeben sich nicht aus der Erfindung subjektiver Erklärungen der Phänomene durch Ansetzung unerfahrbarer Bestände, sondern aus der Entfaltung des sachlichen Sinnesrahmens der vortheoretischen Erfahrungswelt. Geliefert wird solche Entfaltung durch das, was Sellars als „descriptive ontology of everyday life“ bezeichnet (Sellars 1963a, 172), nämlich durch die transzendentale Ästhetik oder Wesensdeskription des Apriori, wodurch sich Objekte und eine Welt „vor den kategorialen Aktionen“, d.h. passiv konstituieren (Hua XVII, 297). Husserl bezeichnet sie auch als „Ästhetik der Natur“ (Hua XLI, 273) oder „Ontologie einer erfahrenen Natur überhaupt“ (Hua XXXIX, 268) sowie als „Wesenslehre“ oder „Ontologie der Lebenswelt rein als Erfahrungswelt“ (Hua VI, 144, 176). Ihre Aufgabe ist, die Welt „rein als erfahrene“, oder genauer die „Erfahrungsgestalt einer Welt überhaupt“ herauszufassen, „die eben notwendig überall voranliegt, zugrunde liegt, wenn überhaupt die Subjektivität dazu übergeht, über die von ihr erfahrene sich Gedanken zu machen, sie so oder so zu interpretieren“ (Hua XXXIX, 260), mithin „das Ontische in seiner ont<ischen> Wesensart, wie es in der Erfahrung selbst beschlossen ist, herauszustellen“ (Hua XLI, 346). Es geht dabei um die eine objektive, unveränderlich wahre Beschreibung der Welt durch unveränderlich angemessene (sinnliche bzw. erfahrungsmäßige) Kategorien, die im Gegensatz zu den vielen subjektiven, vorübergehenden Erklärungen der Welt steht.
27Wie Sellars bemerkt, sind Eddingtons zwei Tische inkompatibel: Existieren die Mikroentitäten der Physik, dann existieren nicht die Makroentitäten der Erfahrungswelt (Sellars 1963a, 98, 96). Falsch ist jedoch das wissenschaftliche Weltbild: Der reale Tisch besteht nicht aus Atomen und subatomaren Teilchen, sondern aus sinnlichen Eigenschaften, die durch sachliche Verhältnisse wechselseitiger Unselbständigkeit ein sinnliches Ganzes ergeben. Eine subjektive Fiktion ist nicht das sinnlich Gegebene, sondern die unerfahrbaren Entitäten, welche angesetzt werden, um es zu erklären. Es geht um Substruktionen, die sich von den Gespenstern nur dadurch unterschieden, dass sie von der Erfahrung nicht widerlegt werden können (Hua XXXII, 216). Die theoretischen Entitäten existieren in den Theorien genauso wie die mythologischen in der Mythologie. Eigentlich und wahrhaft existieren nur die sinnlichen Gegenstände, weil nur deren Existenz unter keiner theoretischen Annahme steht, wie Husserl gegen die „Rede von verschiedenen Existenzgebieten, von verschiedenen ,Welten‘ (universes of discourse), die über die Existenz und Nichtexistenz desselben Objekts verschieden disponieren“, bemerkt: „Die ,Welt‘ des Mythus, die Welt der Poesie, die Welt der Geometrie, die wirkliche Welt, das sind nicht gleichberechtigte ,Welten‘. Es gibt nur eine Wahrheit und eine Welt, aber vielfache Vorstellungen, religiöse oder mythische Überzeugungen, Hypothesen, Fiktionen“ (Hua XXII, 329). Die Welt der Wahrheit ist die sinnliche oder reale Welt der Erfahrung, die unabhängig vom Eingreifen des Subjekts mit ihrer invarianten Wesensstruktur gegeben ist, nicht auf theoretischen Annahmen beruht und diesen zugrunde liegt. Die Welt der Meinung ist die gedankliche oder ideale Welt der Theorien, die vom Subjekt jeweils substruiert wird, um die reale Welt der Erfahrung zu erklären. Nicht Wissenschaft, sondern Wahrnehmung ist „das letzte Maß der Wirklichkeit“ (Hua XL, 314).
5. Sellars und die Folgen
28In Kap. VII der Prolegomena zur reinen Logik beweist Husserl, dass der Psychologismus eine Theorie ist, die gegen die Möglichkeitsbedingungen einer Theorie überhaupt verstößt und sich selbst aufhebt. Denn im Sinn ihrer Aussagen setzt sie implizite voraus, was eben dieser Sinn fordert, aber sie leugnet es ausdrücklich, indem sie lehrt, dass es möglicherweise nicht gälte. Dasselbe gilt für jede andere Art Naturalismus, dessen Widersprüchlichkeit Putnam (1983) und Nagel (1999) aufgezeigt haben.
29Psychische Wesen sind nicht nur Objekte in der Welt, sondern auch Subjekte der Welt, insofern sie die Welt in ihren Akten erfahren und erfassen. Die Vertreter des Naturalismus verhalten sich als Subjekte der Welt, wenn sie ihre Theorien formulieren, aber in ihren Theorien reduzieren sie die psychischen Wesen auf Objekte in der Welt. Der Inhalt ihrer Behauptungen leugnet daher das, was überhaupt zum Sinn jeder Behauptung gehört (Hua XVIII, 123). Denn die Reduktion des Denkens auf kausal-psychologische Prozesse macht es unmöglich, zwischen richtigem und irrigem Denken zu unterscheiden, und eine Theorie, die jeden Vorzug des evidenten gegenüber dem blinden Urteil leugnet, hebt das auf, was sie selbst von einer willkürlichen und rechtslosen Behauptung unterscheidet (ebd. 114, 119). „Dürften wir der Evidenz nicht mehr vertrauen, wie könnten wir überhaupt noch Behauptungen aufstellen und vernünftig vertreten? […] Ohne Einsicht kein Wissen“ (ebd. 156). Insofern eine Evidenz erst durch eine weitere Evidenz aufhebbar ist, ist die Geltung der Evidenz immer vorausgesetzt, sogar wenn sie abgelehnt wird.9 Die Behauptung, dass Evidenz auf ein psychisches Gefühl reduziert werden kann, setzt nämlich voraus, dass man zuverlässig sieht, dass es so ist.
Sehen ist das Letzte und andemonstrieren lässt sich das Sehen nicht, da jede Argumentation versagt, wenn sie nicht die Gültigkeit des Sehens voraussetzt (sie als prinzipiell zweifelhaft erklärt). […] Das letzte Maß aller Bürgschaft (die Maßeinheit) kann nicht selbst wieder gemessen werden (Hua XXXVI, 10).
30Wenn die Behauptung „Es gibt keine Gründe, sondern nur Ursachen“ wahr wäre, hätte sie keinen Grund und dürfte also nicht beanspruchen, begründet und wahr zu sein, da sie wie alle anderen Behauptungen bloß die Wirkung einer Ursache wäre. Wären alle scheinbar einsichtigen Feststellungen auf die Wirkung physikalischer Prozesse reduzierbar, wäre selbst die scheinbar einsichtige Feststellung „Alle scheinbar einsichtigen Feststellungen sind auf die Wirkung physikalischer Prozesse reduzierbar“ auf die Wirkung physikalischer Prozesse reduzierbar. Das Feststellen der faktischen Voraussetzungen von jedem Feststellen setzt das Vertrauen auf das Feststellen voraus.
31Sellars zufolge sind die qualitativen Aspekte der Welt preiszugeben, denn „the sensible qualities of things really are a dimension of neural activity“ (Sellars 1963a, 126): „when a person sees that a physical object is red and triangular on the facing side, part of what is ,really‘ going on is that a red and triangular sensum exists where certain microtheoretically construed cortically processes are going on“ (ebd. 103). Dasselbe gilt für die Gedanken (Sellars 1971, 396ff.). Wer solchen Ansatz vertritt, der die zwangsläufige Konsequenz der Scientia-Mensura-These ist, kann nicht seine Theorien formulieren, ohne sich zu widersprechen.
32Stich (1983) und Churchland (1981; 1984) behaupten, dass die normale Sprache, in der Meinungen und Gründe ausgedrückt werden, durch das neurophysiologische Vokabular zu ersetzen ist, aber um dieses zu verteidigen, drücken sie Meinungen und Gründe aus, indem sie die normale Sprache verwenden.10 Letztere, und somit Meinungen und Gründe sind nämlich unhintergehbar und können nicht in Frage gestellt werden, was auch immer Wissenschaft behaupten mag. Stich und Churchland widersprechen insofern sich selbst, als sie das Bestehen von Meinungen und Gründen voraussetzen, die sie für nicht bestehend erklären.
33Nach Metzinger (1996; 2003) ist die Einheit des Selbst eine repräsentative Fiktion. Dass es dabei um eine Fiktion gehe, könne aber nicht auf der phänomenalen bzw. personalen Ebene des Bewusstseins, sondern erst vom Standpunkt der subpersonalen Informationsverarbeitungsprozesse aus eingesehen werden, die zugleich erklären, wieso solche Fiktion notwendig entstehe. Die Phänomenologie verfalle dem Mythos des Gegebenen, denn was sie als unmittelbar gegeben ansieht, sei eine auf neuronalen Prozessen beruhende Konstruktion. Solche These ist widersinnig, da sich jede objektive Feststellung auf der personalen Ebene ausweist. Um das Bestehen neuronaler Prozesse feststellen zu können, muss man sich auf das unmittelbar Gegebene stützen und auf die subjektiven Akten verlassen, in denen es sich als solches darbietet. Um das Ergebnis jedweder wissenschaftlichen Messung (etwa eine Zahl auf einem Display) lesen zu können, muss man ein sinnliches Phänomen für wahr halten und dem Mythos des Gegebenen verfallen. Ist solches Phänomen eine Illusion, ist selbst der von ihm vollzogene Schluss eine Illusion. Subpersonale Prozesse können nur auf der personalen oder phänomenalen Ebene des Bewusstseins festgestellt werden. Ist diese Ebene eine Illusion, sind also selbst die wissenschaftlichen Feststellungen jener Prozesse eine Illusion.11 Aber nicht umgekehrt. Unmittelbare Konstatierungen über die Welt sind unverletzlich und können nicht durch wissenschaftliche Theorien bezweifelt werden, weil sie solchen Theorien zugrunde liegen. Während das wissenschaftliche Weltbild in dem manifesten gründet und dessen Gültigkeit voraussetzt, gründet das manifeste Bild nicht in dem wissenschaftlichen und setzt dessen Gültigkeit nicht voraus. Die Wissenschaft kann also das manifeste Weltbild keineswegs in Frage stellen.
34Abzulehnen ist der Naturalismus nicht im Namen der Subjektivität, sondern im Namen der Objektivität, d.h. der Sinnhaftigkeit vom Denken und Reden sowie der „materielle[n] Realität“, die „allen anderen Realitäten zugrunde [liegt]“ (Hua III, 354), nämlich der Lebenswelt, die nichts als die „vorgegebene“ oder „körperliche Natur“ ist (Hua VI, 461).
6. Wissenschaftliches und manifestes Weltbild
35Anders als Hegel (E, § 442 A) und Sellars (1963a, 20; 1965, 190ff.) meinen, bildet das Sinnliche nicht „bloß das empirische Erste“ oder die „anfangende Grundlage“, sondern „die wahrhaft substantielle Grundlage“, und das manifeste Weltbild geht dem wissenschaftlichen nicht nur methodologisch, sondern auch substantiell bzw. ontologisch voran.
36Das physikalische Ding ist ein Gedankending,12 und zwar „eine nicht wahrnehmbare, nicht erscheinbare […] Einheit“, die „denkend den Erscheinungseinheiten unterlegen wird“ (Hua XLII, 149). Es geht demnach nicht um ein unbekanntes Ding der Erfahrung hinter den subjektiv-relativen von uns Menschen erfahrbaren Dingen, sondern um „ein theoretisch konstruiertes Substrat für irrelative Prädikationen“, durch welches
jedermann in seiner subjektiven Lage und aufgrund seiner aktuell erfahrenen Umwelt nach der formal gleichen und somit von jedermann gleichsinnig durchführbaren Methode dieselbe Bestimmung gewinnen kann für jedes Ding, das er in seiner Erfahrung erfährt, und zugleich trotz aller Abweichungen als dasselbe, wenn auch subjektiv anders bestimmt erfährt, das jedermann auch erfahren kann und erfährt. Und umgekehrt: Jeder Vernünftige kann, die Formel lesend, wissen, was er in seiner Lage muss erfahren können (Hua XXXII, 202f.).
37Theoretische Entitäten werden jeweils (je nach der Theorie) postuliert, um die invarianten (theorieunabhängigen) sinnlichen Phänomene, d.h. das stetig (vortheoretisch) Gegebene zu erklären. „Nie wird Wissenschaft denselben Seinssinn wie die Erfahrungswelt haben, aus dem einfachen Grunde, dass sie deren Bestimmung oder Erklärung ist“ (Merleau-Ponty 1974, 4f.). Die Wissenschaft ändert nämlich nicht die Weise, wie die Phänomene gegeben sind, sondern nur die Weise, wie sie gedacht und gedeutet werden: Die Erfahrungswelt „bleibt, als sie ist, in ihrer eigenen Wesensstruktur, in ihrem eigenen konkreten Kausalstil ungeändert, was immer wir kunstlos oder als Kunst tun“ (Hua VI, 51).13
38Die angebliche Überlegenheit des wissenschaftlichen Weltbildes ist nur vom Standpunkt des manifesten Weltbildes aus zu begründen. Manifestes und wissenschaftliches Weltbild sind nämlich keine alternativen Rahmen oder Begriffsschemen: Das manifeste Weltbild ist der unumgängliche epistemische Grund jedes kategorialen Rahmens und seine Gültigkeit kommt nicht aus einer Wahl zwischen alternativen Theorien her, sondern daraus, dass sie alternativlos, nämlich bei jeder Annahme und Feststellung betreffs der Realität notwendig vorausgesetzt ist. Wie Duhem bemerkt, beruhen die erhabensten wissenschaftlichen Erkenntnisse schließlich auf den Gegebenheiten des common sense: Werden die Gewissheiten des common sense bezweifelt, bricht also der ganze Bau wissenschaftlicher Wahrheiten zusammen (Duhem 1992, 178f.). Insofern das Recht der Erfahrung vorausgesetzt wird, auch wenn es begrenzt wird (Hua XXXV, 475), heben Theorien sich selbst auf, wenn sie es abstreiten.
Das wusste auch Demokrit; daher ließ er, als er den Sinnenschein verworfen hatte, […] die Sinne zum Verstande folgendermaßen sprechen: „Du armseliger Verstand, von uns hast du deine Gewissheiten genommen, und nun willst du uns damit niederverwerfen? Dein Sieg ist dein Fall!“14
39Es kann nicht erst die Vernunfterkenntnis sein, die die objektive Wahrheit herauszuarbeiten hat, weil der Vernünftige die seiende Welt nur aus Erfahrung hat und alle vernünftigen Bewährungen auf die Einstimmigkeiten der Erfahrung zurücklaufen: Naturgesetze haben ihre faktische Gestalt aus dem faktischen Verlauf der Erfahrung in Beobachtungen und Experimenten (Hua XXXIX, 654 Anm. 2). Sinnliche Erfahrung ist kein zufälliger Ausgangspunkt, von dem man sich nachher befreien kann. Denn selbst für den Wissenschaftler fungiert die Gültigkeit des sinnlich Gegebenen als eine „Prämisse“, d.h. nicht „als ein irrelevanter Durchgang, sondern als das für alle objektive Bewährung die theoretisch-logische Seinsgeltung letztlich Begründende, also als Evidenzquelle, Bewährungsquelle. Die gesehenen Maßstäbe, Teilstriche usw. sind benützt als wirklich seiend, und nicht als Illusionen“ (Hua VI, 129). Die Erfahrungswelt stellt demnach einen Boden ursprünglicher Evidenzen dar, auf den jede Bewährung zurückführt, weil das in ihr Gegebene erfahrbar und bewährbar ist, während die gedanklichen Substruktionen der Wissenschaften wirkliche Wahrheit nur durch Rückbeziehung auf die sinnlichen Evidenzen haben können, die demzufolge eine „höhere Dignität der Erkenntnisbegründung gegenüber derjenigen der objektiv-logischen Evidenzen“ besitzen (ebd. 130f.). Erfahrung ist „die Evidenzquelle der objektiven Feststellungen der Wissenschaften, die ihrerseits nie selbst Erfahrungen von dem Objektiven sind“, da dieses – genauso wie ein metaphysisch Transzendentes – „als es selbst nie erfahrbar“ ist (ebd. 131). Denn wie Husserl im Entwurf eines Briefs an Spranger von 1918 schreibt, „berichtigen kann man nur in einer Sphäre gegebener Sachen“. Die Begründung wissenschaftlicher Wahrheiten führt auf die „alltäglich-praktischen Situationswahrheiten“ zurück, die in der wissenschaftlichen Methode notwendig gebraucht werden (ebd. 135), weil jede wissenschaftliche Gestaltung auf die vorwissenschaftliche Welt zurückbezogen ist, in der der Wissenschaftler seine Messinstrumente sieht, gesehene Größe schätzt und sich mit all seinem Tun und all seinen Gedanken enthalten weiß (ebd. 123f.), weshalb alle theoretischen Gebilde in die Lebenswelt einrücken oder einströmen (ebd. 133, 141 Anm. 1).
40Insofern sie sich als wahr und falsch ausweisen lassen müssen, haben die physikalischen Sätze „Beziehung auf die sinnliche Welt“ (Hua XXXII, 223) und jede exakt-ideale Feststellung „indiziert […] zugleich rückwärts den Umkreis der Anschauungen, die unter die Idee gehören“: „Wenn der Physiker eine exakte Formel liest, weißt er sofort, wie die betreffenden physikalischen Tatsachen sich sinnlich anschaulich darstellen werden“, und der Techniker kann von den exakten Ergebnissen der Physik Gebrauch machen zur passenden Gestaltung der anschaulichen Umwelt (ebd. 197). „Da […] die praktische Subjektivität es mit keinen anderen Realitäten als den anschaulichen zu tun hat, so kann exakte Wissenschaft niemals die relative Wahrheit der anschaulichen Wissenschaften entbehrlich machen“ (ebd.). Man kann nämlich das Resultat eines wissenschaftlichen Experiments erst durch eine Wahrnehmung lesen, die erst durch andere Wahrnehmungen berichtigt werden kann. Wahrnehmung fungiert demzufolge als letzte Berufungsinstanz jeder Theorie. Da die Wahrnehmung die Geltung der wissenschaftlichen Theorien nicht voraussetzt, während die wissenschaftlichen Theorien die Geltung der Wahrnehmung voraussetzen, ist das sinnlich Gegebene epistemisch (und nicht bloß kausal oder genetisch) unhintergehbar. Die Überwindung der sinnlichen Relativitäten durch die Theorie ist demnach eine nur „angebliche“ (Hua VI, 135f.).
41Um zur goldenen Wahrheit zu gelangen, dass die Gegenstände der Alltagswelt nicht wirklich bestehen, muss man sie als wirklich bestehend ansehen. Dies geht selbst aus Guttings und Brandoms Versuchen hervor, die widersinnigen Konsequenzen von Sellars’ Ansatz zu verdrängen.
42Gutting erkennt, dass wissenschaftliche Theorien die Falschheit der sinnlichen Evidenz nicht implizieren können, weil die Annahme solcher Theorien auf der Bürgschaft solcher Evidenz beruht. Das Ersetzen des Beobachtungsrahmens durch den theoretischen Rahmen impliziert jedoch nach ihm, dass die Wahrheit des zweiten angenommen und die Wahrheit des ersten geleugnet wird, aber nicht, dass selbst die Wahrheit der Beobachtungsaussagen geleugnet wird, die innerhalb des ersten formuliert werden: Da die Annahme der Theorien bloß die Wahrheit der Beobachtungsaussagen (und nicht des Beobachtungsrahmens) voraussetzt, setzt sie nicht etwas voraus, das von den Theorien geleugnet wird (Gutting 1978, 112). Das ist widersinnig, weil die Wahrheit der innerhalb eines Begriffsrahmens formulierten Aussagen die Wahrheit eines solchen Begriffsrahmens voraussetzt: Ist letzterer falsch, sind alle Aussagen falsch, die innerhalb von ihm formuliert werden. Eine Theorie, die die Falschheit des Beobachtungsrahmens aussagt, darf also nicht auf Beobachtungsaussagen und somit auf der Bürgschaft der sinnlichen Evidenz beruhen. Dass der common sense-Rahmen falsch ist, heißt, dass es keine Gegenstände des common sense-Rahmens gibt, wie Sellars in einer schon zitierten Stelle behauptet (Sellars 1965, 189). Nun, wenn „the objects of the observational framework do not really exist“ (Sellars 1963a, 126), ist die Annahme solcher Gegenstände falsch und darf keinesfalls als Voraussetzung der Theorien fungieren. Und wenn „perceptual takings are mistakings of objectless sensings for occurrent perceptible properties of physical objects“ (Sellars 1977, 331), dürfen wissenschaftliche Theorien keineswegs auf ihnen beruhen.
43Nach Brandom gibt es von Sellars’ Standpunkt aus keine prinzipiell unbeobachtbaren Entitäten, denn „beobachtbar“ besagt „auf eine nicht-inferentielle Art berichtbar“. Physiker, die eine angemessene Einschulung bekommen haben, können demgemäß das Vorhandensein von µ-Mesonen in der Blasenkammer auf eine nicht-inferentielle Art berichten.
In this sense of „observation“, nothing real is in principle beyond the reach of observation. (Indeed, in Sellars’ sense, one who mastered reliable differential responsive dispositions noninferentially to apply normative vocabulary would be directly observing normative facts. It is in this sense that we might be said to be able to hear, not just the noises someone else makes, but their words, and indeed, what they are saying—their meanings) (Brandom 1997, 164f.).
44Die Rede vom Hören der Bedeutungen ist widersinnig, da man ausschließlich ausgedehnte sinnliche Inhalte hören kann, was die Bedeutungen keineswegs sind, und führt zum Kollidieren von Signifikat und Signifikant. Freilich ist der geistige Sinn mit den sinnlichen Erscheinungen „in gewisser Weise verschmolzen statt in einem verbundenen Nebeneinander nur verbunden“ (Hua IV, 238), weshalb die umweltlichen Dinge „ganz unmittelbar als geistig bedeutsame Dinge“ erfahren werden: In der Anschauung eines Kulturobjektes „erfahren wir nicht Zweiheit, sondern Einheit, die eben nur hinterher abstraktiv nach zwei Seiten des ausdrückenden und ausgedrückten Sinnes, der kulturellen Bedeutung zu betrachten ist“ (Hua IX, 111f.). Insofern aber das Bedeutungsbewusstsein eines anschaulich gegebenen Zeichens als Stütze oder Anhalt bedarf, ist es auf dem Wortlautbewusstsein fundiert, das unabhängig vom Bedeutungsbewusstsein bestehen kann, wie der Fall einer Arabeske aufzeigt, die sich später als bedeutsames Schriftzeichen erweist. Demgemäß „scheidet sich die ideale und durch Erzeugung verwirklichte Gegenständlichkeit als idealer geistiger Gehalt von dem realisierenden körperlichen Leib“ (Hua XXXVII, 219). Bedeutungen kann man nicht wahrnehmen, sondern aufgrund eines anschaulich Gegebenen begrifflich erfassen. Das sind zweifellos Trivialitäten, aber eine Theorie, die ihnen widerspricht, ist zweifellos grundverkehrt.
45Dass der Physiker auf eine gekrümmte Dampfspur zurückgreifen kann, um seinen Bericht über das Vorhandensein von µ-Mesonen zu rechtfertigen, ändert Brandom zufolge nichts daran, dass der ursprüngliche Bericht nicht das Ergebnis von Schlüssen aus grundlegenden Beobachtungen, sondern eine wahrhafte Beobachtung war.
If mu meson is the concept the physicist applies noninferentially, then if he is sufficiently reliable, when correct, that is what he sees. His retreat, when a question is raised, to a report of a hooked vapor trail, whose presence provides good inferential reason for the original, noninferentially elicited claim, is a retreat to a report that is safer in the sense that he is a more reliable reporter of hooked vapor trails than of mu mesons, and that it takes less training to be able reliably to report vapor trails of a certain shape, so that is a skill shared more widely (Brandom 1997, 165f.).
46Dazu ist zweierlei zu bemerken. Erstens verfällt Brandom dem Reizfehler, indem er das Gegebene mit dem Gewussten verwechselt. Wer Rauch sieht und weiß, dass das Vorhandensein des Rauchs meistens mit dem Vorhandensein des Feuers zusammenfällt, sieht diesem Ansatz gemäß Feuer. Das sind die Konsequenzen der Aufhebung vom sinnlich Gegebenen zugunsten intellektualistischer Mythologien. Zweitens sind Brandoms Erläuterungen folgendermaßen auseinanderzulegen: Der Bericht über die nicht wirklich bestehenden Gegenstände der Sinne, d.h. über „objectless sensings“ ist sicherer als der Bericht über die wirklich bestehenden Entitäten der Wissenschaft und darf das Bestehen solcher Entitäten rechtfertigen. Das ist ähnlich wie die Aussage: Sieh, du darfst nicht dem Sehen vertrauen. Da es keine weitere Rechtgebung als das unmittelbare Schauen gibt (Hua XXXVII, 225), ist es widersinnig, „dass man die einzig mögliche Autorität, die der Anschauung, leugnet oder durch indirekte Mittel, die sie in Wahrheit voraussetzen, zu verdrängen sucht“ (Hua XX/1, 322).
47Anders als Sellars (1963a, 27, 29) behauptet, ist das manifeste Weltbild keine unangemessene Darstellung dessen, was es gibt, und das wissenschaftliche Weltbild liefert keine intelligiblere Darstellung dessen, was es gibt. Sellars’ wissenschaftlicher Realismus – weit entfernt davon, aus Aporien des manifesten Weltbildes zu stammen, wie Haag (2007, 368ff.) meint – erzeugt Aporien. Letztere entstehen, wenn man das sinnlich Gegebene erklären will, indem man es auf das nicht sinnlich Gebbare zurückführt. Erklärung besagt nämlich „eine Methode, welche den deskriptiven Bereich, einen durch wirklich erfahrende Anschauung realisierbaren, überschreitet“ (Hua VI, 226f.), und entstammt dem menschlichen Bedürfnis, über die Erfahrung hinauszureichen, das der Religion, der Metaphysik sowie der Wissenschaft zugrunde liegt und kein vollständigeres Weltbild, sondern zusätzliche zu erklärende Entitäten ergibt. Die Wissenschaft liefert keine erklärende Vollständigkeit, sie setzt vielmehr eine weitere erklärungsbedürftige Realität an.
48Insofern Sellars hinter der Welt der Erfahrung die Welt der Wissenschaft ansetzt, übernimmt er die „Bahn der doppelten Wahrheit“ (ebd. 179) und verfällt der Verdoppelung der Gegenstände: „Manifest objects are ,appearances‘ to human minds of a reality which is constituted by systems of imperceptible particles“ (Sellars 1963a, 26).15 Der „Realismus“ zieht gerade die Schlusstheorie der Wahrnehmung nach sich, weil er die sinnlichen Gegenstände zu Bildern oder Zeichen von hinter ihnen liegenden und sie verursachenden nichtsinnlichen Gegenständen macht. Kausalschlüsse sind jedoch nur auf einem homogenen Erfahrungsboden sinnvoll und können nicht vom Erfahrenen ins prinzipiell Unerfahrbare führen (Hua XXXVI, 178). Die sowohl Thomas’ Gottesbeweisen als auch dem Schluss auf die beste Erklärung zugrundeliegende Erweiterung kausaler Induktion jenseits der phänomenalen Ebene ist unberechtigt, da eine Ursache ein Phänomen ist, dem ein anderes Phänomen nach einer Regel folgt,16 während Gott und die theoretischen Entitäten keine Phänomene sind.
49Die Bewegung der Sonne am Himmelsgewölbe ist Schein genauso wie die Bewegung der Landschaft, die vom fahrenden Wagen aus erscheint: Wir merken nicht, dass wir mit der Erde selbst bewegt werden. Die Richtigstellung des Scheins der Sonnenbewegung ergibt daher noch nicht eine physikalische Erkenntnis, denn „sie stellt nur richtig, was für die Phänomene selbst gilt, während die Physik das aus den Phänomenen überhaupt erst theoretisch herauszuerkennende an sich Wahre in einem neuen Sinn betrifft“ (Hua XXXII, 73). Erde und Sonne sind nämlich Erfahrungsgegenstände, die durch sinnliche Begriffe bestimmbar sind, während physikalische Objekte prinzipiell unerfahrbar und nur durch nicht-sinnliche Begriffe bestimmbar sind. Die Erklärung der Phänomene durch hypothetisch angenommene, aber wahrnehmbare Ursachrealitäten (etwa durch die Annahme eines unbekannten Planeten, die gewisse planetarische Strömungen erklärt) ist etwas prinzipiell anderes als die Erklärung der Phänomene durch wesensmäßig unerfahrbare Entitäten. Übrigens, wenn eine unbekannte Ursache der Erscheinungen wirklich bestünde, müsste sie prinzipiell wahrnehmbar sein, wenn nicht für uns, so für anders beschaffene Subjekte, weshalb sie sich wieder in Erscheinungen geben müsste, und so weiter in infinitum (Hua III, 111). Ein derartiger rekursiver Charakter macht die Erklärung des Beobachtbaren durch das Unbeobachtbare fade, wie van Fraassen (1980) hervorhebt und schon Hume in den Dialogues concerning Natural Religion bemerkte:
If the material world rests upon a similar ideal world, this ideal world must rest upon some other, and so on without end. It were better, therefore, never to look beyond the present material world. By supposing it to contain the principle of its order within itself, we really assert it to be God; and the sooner we arrive at that Divine Being, so much the better. When you go one step beyond the mundane system, you only excite an inquisitive humour which it is impossible ever to satisfy.
50Hier wird der echte materialistische Ansatz formuliert. Denn „[d]er Materialismus leugnet die Möglichkeit der Frage nach einem Grunde der Welt. Die Welt ist in sich selbst begründet. Erklärt wird in diesem System nichts, sondern es wird bei der bloßen Erfahrung stehen geblieben“ (GA IV/1, 364). Solche Ansicht ist das genaue Gegenteil von Demokrits Ansicht, der die Welt auf unerfahrbare Denkbestände erklärend zurückführte. Da Demokrit die sinnlichen Qualitäten als nur durch Festsetzung existierend, die Atome und das Leere hingegen als durch Wahrheit existierend, die sinnliche Erkenntnis als unzuverlässig, die intellektuelle Erkenntnis hingegen als zuverlässig betrachtete,17 war sein Ansatz dem Ansatz Platons ganz ähnlich, denn beide „hielten nur das gedanklich Erfassbare für wahr“: Demokrits Atome – genauso wie Platons Ideen – haben „eine Beschaffenheit, der es an jeder sinnlich wahrnehmbaren Qualität fehlt“.18 Was aber keine sinnliche Eigenschaft besitzt, ist kein Reales, sondern ein Ideales oder Gedankending.
7. Sellars’ Idealismus
51Als wirklich kann entweder das Gegebene oder das Gedachte gelten. Lehnt man ab, dass das Wirkliche aus sinnlichen Bestimmungen besteht und das in der Erfahrung Antreffbare ist, ist es zwangsläufig, das Wirkliche aus Denkbestimmungen bestehen zu lassen und als das im Denken Ansetzbare anzusehen, mithin dem Idealismus zu verfallen.
52„Platonischer Realismus“ bezeichnet dasselbe wie „platonischer Idealismus“, nämlich die Lehre, dass die Ideen real, ja realer als die sinnlichen Dinge sind. Ebenso besteht der so genannte mittelalterliche Realismus in der These, dass die allgemeinen bzw. idealen Begriffe ante rem, d.h. vor den individuellen bzw. realen Gegenständen existieren. In beiden Fällen wird ein Ideales als real hingestellt, weshalb es um Idealismus geht. Dasselbe gilt für den wissenschaftlichen Realismus, der gleichermaßen ein Ideales für das wirklich Bestehende hält.
53Der eigentliche Realismus fällt vielmehr mit dem Empirismus zusammen. Denn er behauptet, „dass die Dinge, wie sie unmittelbar sind, eine wirkliche Existenz haben“, während der Idealismus „den Ideen allein Realität“ zuschreibt, „indem er behauptet, dass die Dinge, wie sie in der Einzelheit erscheinen, nicht ein Wahrhaftes sind“ (HW XIX, 571f.). Das Sinnliche gilt dem Idealismus als „ein Nichtiges“ (HW V, 44), weil „nichts wirklich ist als die Idee“ (HW VII, 25): Insofern ihr Sein „nur Schein“ ist, ist die empirische Welt „für das Nichtige“ zu erklären, während die absolute Wahrheit „jenseits jener Erscheinung nur in Gott ist, Gott nur das wahrhafte Sein ist“ (E, § 50 A). Der „philosophische wahrhafte Idealismus“ besteht eben in der Auffassung, dass die sinnlichen oder unmittelbaren Dinge „nur Schein“, also „nichts an sich sind“ (E, 246 Z), weil sie „an sich bloße Erscheinungen sind“ und „den Grund ihres Seins nicht in sich selbst, sondern in der allgemeinen göttlichen Idee haben“ (E, § 45 Z). Solcher Idealismus bildet „die Grundlage alles religiösen Bewusstseins“, da „auch dieses den Inbegriff alles dessen, was da ist, überhaupt die vorhandene Welt, als von Gott erschaffen und regiert betrachtet“ (ebd.). Dem idealistischen Ansatz liegt nämlich die „schon von der Religion vorausgesetzt[e]“ Ablehnung der Ansicht zugrunde, wonach „der gegebene Stoff der Anschauung und das Mannigfaltige der Vorstellung als das Reelle gegen das Gedachte und den Begriff“ anzusehen sind (HW VI, 259).
54Im wissenschaftlichen Realismus treten an Stelle von Gott und der Idee andere ideale Bestände, aber am idealistisch-religiösen Ansatz wird festgehalten: Das Reale besteht in unerfahrbaren Entitäten, welche angesetzt werden, um die sinnlichen Gegebenheiten zu erklären, während letztere bloße Erscheinungen sind, die den Grund ihres Seins nicht in sich selbst haben und nicht wirklich bestehen. Das Gegenteil trifft zu: Das Reale oder wahrhafte Sein ist nicht das, was gedacht, aber nicht erfahren und gegeben werden kann, sondern das, was nicht nur gedacht, sondern auch erfahren und gegeben werden kann. Die Unabhängigkeit der Wirklichkeit vom Denken besagt nämlich zunächst die Gegebenheit des Gegebenen, die einen sinnlichen Charakter hat und durch Denktätigkeit nicht geschöpft oder verändert werden kann (Lewis 1929, 193, 66).
55Wie selbst aus Brandoms Erläuterungen sachlich hervorgeht, ist das sinnlich Gegebene keine private, subjektive und immanente Empfindung, sondern das einzig intersubjektiv Erfahrbare und Bewährbare. Während nämlich das sinnlich Gegebene ein Erscheinendes ist und sinnliche Qualitäten wie Farbe, Ausdehnung und Raumgestalt aufweist, ist die Empfindung kein Erscheinendes und weist keine sinnliche Qualität auf, da sie keineswegs gefärbt, ausgedehnt usw. ist. Da also sinnliche Qualitäten „nicht Bewusstseinselemente, sondern Eigenschaften eines Gegenstandes“ sind (Merleau-Ponty 1974, 23), stellen sie keine subjektiven Zustände dar.
56Das Verhältnis zwischen Phänomenen einerseits und Dingen an sich sowie theoretischen Entitäten andererseits stellen Kant und Sellars auf den Kopf. Denn Sinnlichkeit ist kein „trübendes Medium, welches statt den Dingen an sich bloße Erscheinungen derselben gibt“ (Hua Mat III, 172). Da sie Gedankendinge sind, sind die Dinge an sich und die anderen postulierten Entitäten denkbar, aber nicht erfahrbar, während sinnliche Phänomene nicht nur denkbar, sondern auch erfahrbar sind. Es ist demzufolge im wörtlichen Sinne verkehrt, jene als objektiv und real und diese als subjektiv und ideal anzusehen. Bloße Vorstellungen in mir sind die Dinge an sich sowie alle anderen Gedankendinge, wirklich und wahrhaft bestehend sind die Sinnendinge, die „dem tätigen Leben ursprünglich ichfremd vorgegeben, von außen her gegeben“ sind (Hua XVII, 86). Für jedes theoretische Objekt gilt das, was Fichte über das Ding an sich sagt: Da es in der Erfahrung nicht vorkommt, hat es „keine Realität, außer diejenige, die es dadurch erhalten soll, dass nur aus ihm die Erfahrung sich erklären lasse“, weshalb es eine „bloße Erdichtung“ oder „völlige Chimäre“ ist (GA I/4, 190, 192f.). Gegen Kant können wir hierbei auf Kant selbst rekurrieren: Ist der Gegenstand nicht gegeben, hat Erkenntnis keine objektive Realität und die Begriffe sind leer, denn „man hat dadurch zwar gedacht, in der Tat aber durch dieses Denken nichts erkannt, sondern bloß mit Vorstellungen gespielt“ (Kant 1781/87, A 155/B 194f.). Eine jenseits der möglichen Erfahrung liegende Wirklichkeit ist ein focus imaginarius, nämlich eine leere Vorstellung, weil ihr Gegenstand nicht angeschaut, sondern bloß in symbolischer oder gedanklicher Weise gemeint werden kann.
57Da Sellars ideale Denkkonstrukte als real hinstellt, ist sein Ansatz kein Realismus, sondern eine idealistische Mystik.
58Sellars zufolge gibt es insofern keine prinzipiell unbeobachtbaren Entitäten, als theoretische Termini den Status von Beobachtungstermini und theoretische Aussagen den von Wahrnehmungswahrheiten annehmen können. Denn der Beobachtungsrahmen ist nicht der einzige Rahmen, in dem wir direkten empirischen Kontakt mit der Welt haben könnten (Sellars 1965, 196ff.), da er durch einen theoretischen Rahmen ersetzbar ist, der der wahrnehmungsmäßigen Funktion des im Alltagsleben gegenwärtig gebrauchten Rahmens dienen könnte (Sellars 1963a, 97). Freilich wäre der Beobachtungsrahmen nur dann ersetzbar, wenn die Entitäten des theoretischen Rahmens gegeben wären.19 Nun, im vollkommenen wissenschaftlichen Rahmen hätten die theoretischen Termini und Aussagen genau die Rolle, die die Beobachtungstermini und Beobachtungsaussagen im Beobachtungsrahmen haben: „the […] dualism of observation and theoretical framework would be transcended, and the world of theory and the world of observation would be one“ (Sellars 1963b, 78). Insofern theoretische Aussagen fähig einer faktischen Wahrheit sind, ist eine Entwicklung der wissenschaftlichen Theorie denkbar, in der nicht mehr eine sinnlich vermittelte Erkenntnis stattfindet, sondern „a direct commerce of the conceptual framework of the theory with the world“ (Sellars 1965, 204). Denn
a theoretical framework can achieve first-class status only if a proper subset of its expressions acquire a direct role in observation. […] realism with respect to theoretical entities involves the idea that in principle theoretical expressions could take over and monopolize the direct response role which they now share, to a limited and subordinate extent, with expressions belonging to the framework of common sense (ebd. 198).
59Die kategorialen Merkmale theoretischer Objekte könnten geradezu „by the explicit working of a logistically contrived deductive system“ völlig gefasst werden (ebd. 179).
60Bei solchem „collapse of the observational in the theoretical“ (Rottschaefer 1978, 151) geht es um den alten idealistischen Traum einer Aufhebung des Dualismus Anschauung/Begriff, Erfahrung/Denken und somit des sinnlich Gegebenen: Theoretische Entitäten werden unmittelbar erfasst – genauso wie Kants Dinge an sich durch den göttlichen Verstand erkannt und Platons Ideen durch das „Auge der Seele“ oder „das Gesicht der Seele“ bzw. „des Intellekts“ erschaut werden (Resp., 533 D, 519 B; Symp., 219 A).
61Abgesehen von der Absurdität der idealistischen Annahme, der Beobachtungsrahmen sei ersetzbar, trifft die Bemerkung von Cornman (1978, 61f.) zu: Wenn es keine vollständige wissenschaftliche Beschreibung der Welt gibt, die mit der manifesten Beschreibung mithält, stellt jede wissenschaftliche Theorie eine Teilbeschreibung dar, die sich nicht in ein einziges Gesamtbild integrieren lässt, weshalb sich das vereinheitlichte manifeste Bild mit dem wissenschaftlichen Instrumentalismus als plausibler als die wissenschaftlichen Teilbilder mit dem wissenschaftlichen Realismus erweist.
8. Schluss
62Aristoteles stigmatisiert diejenigen, die „die Beweise nicht aus den Phänomenen, sondern eher aus theoretischen Erwägungen zusammensuchen“ (De caelo, 293a 22-30), und die, wenn sie über die Phänomene sprechen, Dinge behaupten, „die mit den Phänomenen nicht übereinstimmen“, indem er sagt, dass „die Prinzipien der wahrnehmbaren Dinge wahrnehmbar sein müssen“, denn „der Zweck ist […] bei der Naturwissenschaft dasjenige, was als Phänomen stets und vor allem sichtbar ist“ (ebd. 306a 6-18). Gegen die eleatischen Denker, die „die Wahrnehmung überschreitend und vorbeisehend an ihr“ behaupten, dass das All nur Eines und unbewegt sei, bemerkt er, dass dies „zwar der logischen Gedankenführung nach zu folgen scheint, es aber in Beziehung auf die Dinge dem Wahnsinn nahesteht, solcher Ansicht zu sein“ (De gener. et corr., 325a 13-20). „Die Behauptung ,Alles ruht‘ und die Suche nach einer Erklärung dafür, indem man alle Wahrnehmungen fahren lässt, das ist eine Art Gehirnerweichung“ (Phys., 253a 31-34).
63Übertragbar sind solche Beurteilungen auf diejenigen, die behaupten, dass die Alltagswelt der räumlich ausgedehnten und zeitlich dauernden gefärbten Gegenstände insofern irreal ist, als die Wissenschaft lehrt, dass es keine solchen Dinge gibt.
64
65Danksagung Ich danke der Direktorin des Husserl-Archivs in Löwen, Prof. Julia Jansen, für die Genehmigung, aus Husserls unveröffentlichten Manuskripten zu zitieren, und Wolfgang Kaltenbacher für die Hinweise zur Verbesserung des Textes.
66
Abkürzungen
67E Hegel, G. W. F., Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse. In HW, Bde. VIII-X.
68GA Fichte, J. G., Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Stuttgart-Bad Cannstatt: Fromman-Holzboog, 1962-2012.
69Hua Husserliana. Edmund Husserl – Gesammelte Werke. Den Haag: Nijhoff, 1950ff.
70Hua Mat Husserliana Materialien. Edmund Husserl – Materialien. Dordrecht: Kluwer, 2001ff.
71HW Hegel, G. W. F., Werke in zwanzig Bänden. Hg. von E. Moldenhauer und K. M. Michel. Frankfurt: Suhrkamp, 1969-1971.
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Stumpf, C. (1939/40). Erkenntnislehre. 2 Bde. Leipzig: Barth.
Van Fraassen, B. C. (1977). On the Radical Incompleteness of the Manifest Image. In Suppe, F., Asquith, P. D. (eds.). PSA 1976. Vol. 2 (335–343). East Lansing: Philosophy of Science Association.
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Wiltsche, H. (2012). What is Wrong with Husserl’s Scientific Anti-Realism? Inquiry 55: 105–130.
Notes
1 Van Fraassen (1977, 336) versteht das manifeste Weltbild als die Lebenswelt in phänomenologischem Sinn und bemerkt, dass Sellars es mal für die Welt, in der wir leben, mal für unser Abbild von ihr hält.
2 Unter Empirismus verstehe ich den Ansatz, wonach das Sinnliche nicht „bloß das empirische Erste“ oder die „anfangende Grundlage“, sondern „die wahrhaft substantielle Grundlage“ ist (E, § 442 A), mithin Erfahrung „den einzigen Boden der Erkenntnisse“ betreffs der Wirklichkeit ausmacht (E, § 40). Zum empiristischen Charakter von Husserls Phänomenologie vgl. De Palma (2020).
3 Vgl. Laudan (1981); Arabatzis (2001); Lyons (2002).
4 Nach Duhem (1978, 31) „beweist uns die Analyse der Methoden, auf denen sich die physikalischen Theorien aufbauen, mit vollkommener Sicherheit, dass diese Theorien nicht als Erklärungen der experimentellen Gesetze auftreten können. Andererseits erfüllt uns ein wirklicher Glaube, den diese Analyse ebensowenig rechtfertigen wie bezähmen kann, dass diese Theorien nicht ein rein künstliches System, sondern eine naturgemäße Klassifikation seien“.
5 Vgl. De Palma (2012, 211ff.).
6 Mach lehnt zu Recht ab, die Denkkonstrukte und Fiktionen der Theorien für wirklich zu halten, aber meint zu Unrecht, die materiellen Dinge – die mit den sinnlichen Eigenschaften und ebenso wie diese gegeben sind – seien Denkkonstrukte oder Fiktionen.
7 Vgl. De Palma (2016, 309ff.).
8 Zwar können Niederschläge von Denktätigkeiten dem sinnlich Gegebenen anhaften, aber man kann immer zwischen dem sinnlich Erfahrenen bzw. passiv Vorgegebenen einerseits und der daran geübten Denktätigkeit und den darin sich bildenden Gedanken andererseits unterscheiden (Hua IX, 57f., 95f.). Außerdem ist zwar die Deskription des in vorbegrifflicher Erfahrung Vorgefundenen nur durch Begriffe vollziehbar, aber die sinnlichen bzw. sachhaltigen Begriffe, die aus der Erfahrung selbst geschöpft sind und in ihr gefasst werden können, sind ganz andere als die wissenschaftlichen Begriffe, unter die kein Ding oder Vorgang der anschaulichen Welt, so genommen, wie er in der Anschauung gegeben ist, direkt fällt (Hua XLI, 59; Hua XXXII, 197f.). Die Einzelfälle eines sinnlichen Begriffs wie „rot“ sind sinnlich gegeben, bevor der Begriff sprachlich gebildet ist. Der Ausdruck „rotes Dreieck“ bezieht sich auf etwas, das die sinnliche Eigenschaft aufweist, die vom Wort „rot“ bezeichnet wird und unabhängig von dem Denken und der Sprache gegeben ist: Auch Subjekte, die den Begriff „rot“ nicht besitzen, können das erfahren, worauf er sich bezieht.
9 Vgl. Stegmüller (1969, 168f.).
10 Vgl. Haack (2009, Kap. 8).
11 Metzingers Ausführungen erinnern an Humes Satz: Die Identität, die wir dem menschlichen Geist zuschreiben, ist eine nur fiktive (A Treatise of Human Nature, I, IV, 6). Da aber „wir“ eine Pluralität von Ich bezeichnet, besagt Humes Satz: Die Identität, die ich dem Geist zuschreibe, ist eine nur fiktive. Erst ein identisches Ich kann nämlich dem Geist die Identität zuschreiben oder abstreiten. Die Leugnung der Identität des Geistes ist widersinnig, insofern sie solche Identität voraussetzt.
12 Da die Naturwissenschaft eine „Unabhängigkeit von dem ganzen erfahrenden Subjekt“ fordert und die Sinneseindrücke abhängig von den Sinnesorganen des Subjekts sind, können die Gegenstände der naturwissenschaftlichen Bestimmung keine Sinnendinge, sondern müssen „Gedankendinge“ sein (Külpe 1910, 13, 22, zitiert bei Rang 1990, 352, 354).
13 Zu Husserls Kritik des wissenschaftlichen Realismus vgl. Rang (1990, 339ff.); Wiltsche (2012).
14 Galenos, De medic. empir. (DK 68 B 125).
15 Laut Sellars sind ausreichende Ähnlichkeiten zwischen manifesten Gegenständen und deren wissenschaftlichen Gegenstücken anzusetzen, um dem Erfolg gerecht zu werden, den wir im Leben, Denken und Handeln in Form des manifesten Rahmens haben (Sellars 1963a, 28). Er kann jedoch das Verhältnis zwischen Beobachtungsgegenständen und theoretischen Entitäten kaum aufklären, wie auch aus der Debatte mit Cornman hervorgeht. Vgl. Cornman (1970; 1977; 1978); Sellars (1971; 1977, 321ff.); Schantz (1990, 234ff.).
16 Vgl. Kant (1781/87, A 609ff./B 637ff.). Deshalb – anders als Kant inkonsequent annimmt – kann das Ding an sich die Erscheinungen nicht verursachen.
17 Vgl. Sextus Empiricus, Adv. math., VII, 135, 138 (DK 68 B 9, B 11).
18 Sextus Empiricus, Adv. math., VIII, 6-7 (DK 68 A 59). Den idealistischen Charakter des antiken Atomismus hat Hegel eingesehen: „das Atome und das Leere sind keine Dinge der Erfahrung. Leukipp sagt: die Sinne sind es nicht, durch die wir des Wahren bewusstwerden, – Idealismus im höheren Sinne, nicht subjektiver“ (HW XVIII, 359). Unwahrscheinlich ist, dass in der Gigantomachie von Platons Sophistes Demokrit mit den „Erdgeborenen“ gemeint ist, die in diametralem Gegensatz zum Atomismus behaupten, dass das Sinnliche allein ist. Nach Diano (1973, 238, 274ff.) ist Demokrit mit den „Freunden der Ideen“ gemeint.
19 Vgl. Rottschaefer (1978, 154ff.).