Bulletin d'Analyse Phénoménologique Bulletin d'Analyse Phénoménologique -  Volume 21 (2025)  Numéro 2 

Die Rolle des Anderen bei Husserls transzendentaler Intersubjektivität und bei Heideggers Mitsein

Francesco Scagliusi
Albert-Ludwigs-Universität Freiburg

Résumé

Husserl’s and Heidegger’s positions on intersubjectivity are often perceived as being diametrically opposed. While Husserl privileges a face-to-face approach to intersubjectivity, Heidegger describes Dasein’s “being-with” in the context of a hermeneutical description of the world. Moreover, Heidegger sharply criticizes Husserl’s intersubjectivity theory, accentuating the distance between the two on this topic. In this article, I argue that despite the many differences between Husserl’s and Heidegger’s approaches to intersubjectivity, the two philosophers have some notable points in common. I illustrate that, according to Husserl’s and Heidegger’s explicit intents, the bracketing of the Other is a necessary step for the constitution of the Self. However, I hold that in both philosophers, another position on the relationship between the Self and the Other can be implicitly found, which grants the Other a constitutive role for the possibility of the Self. I maintain that both authors are led to the last position thanks to the phenomenological method, more specifically thanks to the concept of intuition implied in such a method.

Einleitung

1Das Problem der Intersubjektivität stellt eines der relevantesten und schwierigsten Probleme der Phänomenologie dar. Laut Husserl ist die Phänomenologie ohne eine mögliche transzendentale Intersubjektivität zu einem „transzendentalen Solipsismus“ verurteilt (Hua I, 121), d. h. eine Lehre, deren Ergebnisse keine „objektive Bedeutung“ (Hua I, 116) für jedes mögliche Subjekt haben. Deshalb sei das Problem der Intersubjektivität nicht bloß eines neben vielen anderen in der Phänomenologie, sondern ein solches, das den Sinn sämtlicher anderen phänomenologischen Untersuchungen betreffe.

2Heidegger hat Husserls Theorie der Intersubjektivität stark kritisiert und als ein Scheinproblem erachtet. Heideggers berühmte Lösung besteht darin, eine besondere Art der Intentionalität zu entwickeln, die konstitutiv zum Dasein gehört, und zwar das ‚Fürsorgen‘ (vgl. GA 2, 162f.). Das Dasein sei, so Heidegger, immer schon ‚Mitsein‘:1 So wie es durch den Modus des ‚Besorgens‘ immer schon in der Welt sei, so sei es auch stets mit Anderen im Modus des ‚Fürsorgens‘. Husserl hätte laut Heidegger keine Konstitution der transzendentalen Intersubjektivität versuchen sollen, da diese immer schon konstituiert sowie zugänglich sei.2

3Deshalb werden in der Forschungsliteratur Husserls und Heideggers Intersubjektivitätstheorien als zwei alternative Modelle dargestellt. Während Husserl sein Intersubjektivitätsdenken in einem transzendental-philosophischen Kontext verorte, verstehe Heidegger das Mitsein im Kontext seiner hermeneutischen Auslegung der Welt. So bevorzuge Husserl die direkte Ich-Du Beziehung, hingegen beschreibe Heidegger das Verhältnis mit dem Anderen stets auf Basis der Welt.3 Für ein geeignetes Verständnis des Intersubjektivitätsdenkens beider Autoren ist es zwar unerlässlich, diese Unterschiede im Auge zu behalten; der vorliegende Beitrag wird jedoch auf bestimmte Parallelen zwischen den beiden Philosophen hinweisen, die für die Auffassung ihrer Intersubjektivitätspositionen relevant sind.

4Erstens wird die These vertreten, dass sowohl bei Husserl als auch bei Heidegger eine Art Reduktion oder Ausschaltung des Anderen vorliegt. Dies geschieht bei Husserl durch die Reduktion auf die Eigenheitssphäre in der fünften cartesianischen Meditation und bei Heidegger mit der Angst, die das Dasein „vereinzelt“ (GA 2, 250) und wodurch die Eigentlichkeit erreicht wird. Mit anderen Worten ist bei beiden Autoren die Dimension des ‚Eigenen‘ — Husserls Eigenheitssphäre und Heideggers Eigentlichkeit — wesentlich allein zu gewinnen, ohne dass der Andere in der Konstitution des Selbst eine entscheidende Rolle spielt. Zweitens wird argumentiert, dass trotz dieses Ansatzes sowohl bei Husserl als auch bei Heidegger Hinweise für die These einer konstitutiven Rolle des Anderen für die transzendentale Intersubjektivität sowie die Gewinnung der Eigentlichkeit bestehen. Diese wurden zwar nicht weiterentwickelt und widersprechen den ausdrücklichen Absichten der beiden Philosophen, sie zeigen jedoch, inwiefern bei diesen Autoren die Frage nach dem Status der Intersubjektivität unentwickelte Möglichkeiten enthält, die weiter erforscht und vertieft werden könnten. Schließlich wird ausgeführt, dass beide Autoren dank der phänomenologischen Methode bzw. des darin enthaltenen Anschauungsbegriffs zu diesem ‚ungesagten‘ Ergebnis kommen.

5In drei Abschnitten werden diese Thesen nun ausgeführt: Der erste betrachtet Husserls Intersubjektivitätstheorie in der fünften Meditation und der zweite Heideggers Verhältnis zwischen Mitsein und Eigentlichkeit. In der Schlussbetrachtung werden die Ergebnisse der ersten beiden Abschnitte zusammengefasst und es wird ausgeführt, inwiefern der phänomenologische Anschauungsbegriff beide Philosophen zur wesentlichen Rolle des Anderen für die Konstitution des Selbst führt.

1. Die Rolle des Anderen in Husserls Konstitution der transzendentalen Intersubjektivität in der fünften cartesianischen Meditation

6In den Cartesianischen Meditationen bezeichnet Husserl das Problem der Intersubjektivität als einen „schwerwiegenden Einwand“, der den „Anspruch“ der Phänomenologie betreffe, „Transzendentalphilosophie zu sein“ (Hua I, 121). Durch die transzendentale Reduktion sei zwar der Erlebnisstrom mit seinen Korrelaten zugänglich, es gebe aber einen Inhalt, der „eigentlich nicht […] zu ursprünglicher Gegebenheit“ kommen könne (Hua I, 139) — nämlich das „alter ego“, ohne dessen Zugang die Phänomenologie zum „transzendentale[n] Solipsismus“ verurteilt sei (Hua I, 121). Die „Immanenz des Bewusstseinslebens“ würde sich auf ein „verlaufende[s] Spiel“ reduzieren und sämtliche phänomenologischen Untersuchungen könnten auf keine mögliche „objektive Bedeutung“ abzielen (Hua I, 116).

7In der fünften Meditation besteht Husserls Lösung dieses Problems aus einem komplexen Konstitutionsprozess der transzendentalen Intersubjektivität,4 dessen relevanteste Schritte hier lediglich erwähnt werden können. Dieser Prozess beginnt mit der „Reduktion […] auf die Eigenheitssphäre“ (Hua I, 124), eine „eigentümliche Art thematischer epoché“ (Hua I, 124), die „von allen konstitutiven Leistungen der auf fremde Subjektivität unmittelbar oder mittelbar bezogenen Intentionalitätabsieht (Hua I, 125). Mit anderen Worten muss „die Wirklichkeit des Fremden für mich […] thematisch ausgeschaltet bleiben“ (Hua I, 125). Allerdings bedeutet dies nicht, dass das Ich bloß „allein“ bleibe, als ob es das einzelne Überlebende einer „universale[n] Pest“ wäre (Hua I, 125). Husserls Ausschaltung der Fremderfahrung ist viel radikaler: Da der Andere laut Husserl die Welt in ihrer Objektivität mitkonstituiert,5 bedeutet die Ausschaltung der Fremderfahrung die Ausschaltung der Objektivität der Welt selbst. Nach dieser Reduktion wird die Welterfahrung eine radikal egologische und solipsistische, „Mir-eigene“ Erfahrung (Hua I, 126), in der „der Sinn ‚objektiv‘ ganz und gar [verschwindet]“ (Hua I, 127).6

8Was aber bleibt erfahrbar in der egologischen Sphäre nach einer so radikalen Ausschaltung? Laut Husserl „verbleibt uns eine einheitlich zusammenhängende Schicht des Phänomens Welt“ (Hua I, 127) — „eine Art ‚Welt‘“ (Hua I, 129), die jedoch von der früheren intersubjektiven Welt nicht so unterschiedlich sei. Husserl schreibt explizit, dass es in der Eigenheitssphäre „die gesamte von uns früher durch Ausschaltung der Sinneskomponenten des Fremden reduzierte Welt“ gebe (Hua I, 134), die allerdings nicht für jedermann, sondern lediglich solipsistisch7 für das Ego gelte.8 Daher denkt Husserl offensichtlich, dass eine radikale solipsistische Erfahrung vor der Fremderfahrung möglich ist.9 Nur auf Basis dieser rein egologischen Erfahrung könne der Boden für die Erfahrung des Fremden möglich werden.10 Die „objektive Transzendenz“ der Welt — und dadurch die transzendentale Intersubjektivität — sei deshalb eine „fundierte Stufe“ (Hua I, 136),11 da sie die fundamentalere Stufe der Eigenheitssphäre voraussetze.12

9Die Konstitution dieser „fundierten Stufe“ erfolgt auf Basis der „analogische[n] Apperzeption“ sowie der „Paarung“ (vgl. Hua I, §§ 50, 51). Der Andere, der zunächst ausschließlich als „Körper“ wahrgenommen wird,13 wird aufgrund der Ähnlichkeit zwischen seinem Körper und dem Leib des Ichs14 durch eine „analogisierende Auffassung“ oder „apperzeptive Übertragung von meinem Leib her“ auch als Leib aufgefasst (Hua I, 140). Husserl erklärt, dass die apperzeptive Übertragung nur auf Basis der Paarung als eine „Urform“ der „passiven Synthesis“ der „Assoziation“ möglich sei (Hua I, 142).15 „In einer paarenden Assoziation“, so schreibt Husserl weiter, würden „zwei Daten in der Einheit eines Bewusstseins in Abgehobenheit anschaulich gegeben“, und dadurch „als Paar konstituiert“, solange sie „eine Einheit der Ähnlichkeit begründen“ (Hua I, 142).16

10Diese Analysen, die hier lediglich zusammenfassend dargestellt wurden, wurden in der kritischen Literatur eingehend kommentiert und kritisiert. So lautet der schwerwiegende Einwand, dass in der gesamten fünften Meditation der Sinn ‚fremd‘, der eigentlich ausgeschaltet hätte werden sollen, stets vorausgesetzt werde und dadurch eine radikal solipsistische Erfahrung nicht möglich sei.17 Diese Kritik trifft zwar einen entscheidenden Punkt bezüglich Husserls Intersubjektivitätskonzeption; es wird allerdings in den nächsten Seiten dieses Abschnittes gezeigt, dass in der fünften Meditation und in anderen Texten Passagen zu finden sind, die auf die Möglichkeit einer konstitutiven Rolle des Anderen im Konstitutionsprozess der transzendentalen Intersubjektivität hinweisen.

11Erstens ist Husserls Argument der Fremderfahrungskonstitution in zwei Prämissen fundiert. Zum einen nimmt Husserl an, dass „ein anderer Mensch in unseren Wahrnehmungsbereich [tritt]“ (Hua I, 140).18 Zum anderen lautet die zweite Prämisse, dass der Körper des Anderen ‚ähnlich‘ zu dem Leib des Ichs sei.19 Die Ähnlichkeit zwischen dem Körper des Anderen und dem Leib des Ichs kann jedoch primär nicht in einer physischen Ähnlichkeit bestehen, weil auch eine Schaufensterpuppe zwei Arme und zwei Beine hat. Vielmehr scheint es, dass die physische Ähnlichkeit des Körpers des Anderen zusammen mit der Bewegung desselben im Wahrnehmungsbereich des Ichs auftreten muss. Auch diese zwei Aspekte zusammen kombiniert scheinen aber nicht ausreichend zu sein, um die apperzeptive Übertragung zu motivieren, denn auch eine Puppe könnte sich im Wahrnehmungsbereich des Ichs bewegen, das Ich würde aber nach genaueren Beobachtungen einsehen, dass solche Bewegungen lediglich ‚mechanisch‘ sind.20

12Inwiefern kann dann die Bewegung des Anderen an den Leib des Ichs erinnern? Wenn nicht durch eine bloß mechanische, wird dies vielmehr durch eine freie und spontane Bewegung ermöglicht. Nur diese Art von Bewegung ist tatsächlich der Gegebenheitsweise des Leibs des Ichs ähnlich. Dies scheint Husserl in einer im Jahr 1921 datierten Passage explizit anzuerkennen. Er bemerkt: „Ich als Motivationssubjekt trete nun in der ursozialen Ich-Du-Beziehung nicht nur neben der Anderen als Anderen, sondern ich motiviere ihn, er motiviert mich“ (Hua XIV, 171).21 Obwohl Husserl die oben erwähnten Prämissen der fünften Meditation nicht kritisch hinterfragt, ist es bemerkenswert, dass er dort nur schreibt, dass der Andere in den Wahrnehmungsbereich des Ichs treten müsse — und nicht umgekehrt. Dadurch scheint er eine Interaktion des Anderen mit dem Ich vorauszusetzen und daher zu implizieren, dass der Andere den ersten spontanen Schritt für den Konstitutionsprozess der Fremderfahrung machen muss.22

13Zweitens vertritt Husserl in mehreren Passagen die These, dass die „Erlebnisse“ des Anderen nicht „zu ursprünglicher Gegebenheit“ kommen können (Hua I, 139),23 da der Andere nicht bloß wie die „Rückseite“ eines Gegenstandes durch Kinästhesen erfahren werden kann (Hua I, 139).24 Die Erlebnisse des Anderen bleiben ebenso von der ‚Einfühlung‘ ausgeschlossen: Wenn das Ich sich für einen Anderen traurig fühlt, kann es die in erster Person erlebte Traurigkeit des Anderen nie wirklich erleben.25 Dies deutet auf eine wesentliche Unaustauschbarkeit der Perspektive des Ichs und des Anderen hin, auf eine prinzipielle Unzugänglichkeit der in erster Person erlebten Erlebnisse des Anderen. Für Husserl bedeutet diese Unzugänglichkeit, dass der Andere „das an sich erste Fremde (das erste Nicht-Ich)“ sei,26 mit anderen Worten sei der Andere „die allein eigentlich so zu nennende Transzendenz, und alles, was sonst noch Transzendenz heißt, wie die objektive Welt, beruht auf der Transzendenz fremder Subjektivität“ (Hua VIII, 495). Jedoch stellt eine solche These die ganze Absicht einer Konstitution der transzendentalen Intersubjektivität infrage, da diese Unaustauschbarkeit impliziert, dass das Ich sich nicht wirklich in die Position des Anderen hineinversetzen kann. Der Andere kann nicht, so wie Husserl eigentlich schreibt, „an mein körperliches Aussehen [erinnern], wenn ich dort wäre“ (Hua I, 147).27 Wie bereits früher angemerkt, ist das Problem hier nicht jenes einer körperlichen Ähnlichkeit, sondern das einer Ähnlichkeit der spontanen und freien Gegebenheitsweise des Körpers des Anderen. Die analogische Übertragung lässt sich hier nur vollziehen, wenn der Andere sich schon als Anderer gezeigt hat;28 etwas, das den Versuch der Intersubjektivitätskonstitution vom Standpunkt des Ichs in eine Konstitution vom Standpunkt des Anderen verwandeln würde.

14Drittens kann auch Husserls Zurückgreifen auf die passiven Synthesen eine wesentliche Rolle des Anderen im Konstitutionsprozess der Fremderfahrung in der fünften Meditation anzeigen. Obwohl Husserl die Analysen der fünften Meditation als statisch bezeichnet,29 haben unterschiedliche Studien überzeugend argumentiert, inwiefern in dieser Meditation eine Spannung zwischen statischer und genetischer Analyse besteht.30 Husserl selbst definiert die Paarung als eine passive Synthesis (Hua I, 142).31 Diese passive Synthesis setzte die „Urstiftung“ eines früheren konstituierten Sinnes voraus, auf dessen Basis ein Gegenstand in einer „antizipierenden Auffassung“ wahrgenommen wird.32 Jedoch wurde in der Forschungsliteratur gezeigt, dass der passive Konstitutionsprozess eigentlich nicht vom Ich, sondern vom Gegenstand geleitet wird.33 Wenn die passive Konstitution vom Objekt und nicht vom Subjekt geleitet wird, hätte ebenfalls der Konstitutionsprozess der Fremderfahrung nicht vom Ich, sondern vom Anderen geführt werden sollen.

15In Husserls Texten finden sich Passagen, die explizit auf eine solche Möglichkeit hindeuten. Husserl definiert das Verhältnis zwischen Kind und Mutter als „die ursprünglichste genetische Kontinuität“ (Hua XIV, 504) und erklärt, dass das Kind seine „erste Entwicklung im Mutterleib“ habe (Hua XLII, 222), indem es ein „Ineinander der Primordialitäten“ gebe (Hua XLII, 27). Das Verhältnis der Mutter zu ihrem eigenen Kind, das sie in sich trägt, suggeriert, dass das Kind bereits vor der Geburt passiv Synthesen vollzogen habe, jedoch lediglich auf Basis des Sprechens der Mutter, des Schlags ihres Herzens usw.34

16Dieser Hinweis könnte auch neue Perspektiven in Bezug auf Husserls Zeitdenken eröffnen. In einer entscheidenden Passage seiner Vorlesung über das innere Zeitbewusstsein bemerkt Husserl, dass „die Urimpression […] der absolute Anfang“ der Zeiterzeugung ist, ohne dass sie selber erzeugt wird (Hua X, 100). Sie ist eine „genesis spontanea“, „Urzeugung“ oder „Urschöpfung“ (Hua X, 100). In dieser Vorlesung lässt Husserl die Frage offen, was genau diese Urzeugung ist. Bekanntlich ist die phänomenologische Perspektive dieser Vorlesung eine statische, und keine genetische. Wenn wir jedoch die oben skizzierten genetischen Argumente weiterverfolgen, und nach der genetisch ersten Urimpression fragen, scheint es so, dass diese Urimpression im Anderen gefunden werden sollte. Was ist diese Urimpression, wenn nicht der Schlag des Herzens der Mutter, der dem im Mutterleib wachsenden Kind einen ersten Rhythmus und dadurch eine erste Frequenz für den Vollzug der zeitlichen Synthesis gibt? In diesem Fall würde sich auch die Zeitsynthesis als ein Konstituiertes erweisen, bzw. wäre sie nur auf Basis eines ursprünglichen genetischen „Ineinander[s] der Primordialitäten“ möglich, in dem die erste Frequenz der Zeit vom Anderen gegeben wird.

17Obwohl laut Husserl die Konstitution einer transzendentalen Intersubjektivität vom Ich geleitet wird, bestehen in seiner Argumentation Annahmen, die er nicht kritisch hinterfragt und die zu anderen Ergebnissen hätten führen können. Diese in Husserls Text enthaltenen Potenziale und Hinweise eröffnen neue Perspektiven auf das Thema der Intersubjektivität, die dann bekanntlich weiterhin vertieft wurden.35 Insbesondere führt Husserls Reduktion auf die Eigenheitssphäre zur Unmöglichkeit der Ausschaltung des Fremden und dadurch zur Unmöglichkeit der radikal solipsistischen Erfahrung. Die transzendentale Intersubjektivität erweist sich nicht als eine konstituierte Stufe, sondern als die fundamentalere Stufe36 jeder Konstitution überhaupt, die die Subjektivität selbst ausmacht. Diesbezüglich schreibt Husserl explizit: „Die Subjektivität [ist] nur in der Intersubjektivität, was sie ist“ (Hua VI, 175).37 Im nächsten Abschnitt wird argumentiert, dass — trotz der vielen Unterschiede — bei Heidegger eine ähnliche Situation vorliegt.

2. Heideggers Mitsein und die Rolle des Anderen für die Eigentlichkeit des Daseins

18Bekanntlich wurden Husserls Versuche der Intersubjektivitätskonstitution von Heidegger stark kritisiert. Laut Heidegger wiederholt Husserls Einfühlungstheorie jene traditionellen Probleme des Verhältnisses zwischen Subjekt und Objekt, die Husserl selbst mit der Notion der Intentionalität überwunden habe.38 Deshalb sei das Problem der Intersubjektivität ein Scheinproblem, denn so wie das Dasein immer schon in einer Welt sei, so sei es auch immer schon mit Anderen.39

19Bereits unmittelbar nach der Veröffentlichung von Sein und Zeit (SuZ) wurde jedoch Heideggers Betrachtung der Intersubjektivität von Löwith (1928) kritisiert,40 der eine lange Reihe an kritischen Studien bezüglich des Mitseins begründete. Laut der Forschungsliteratur besteht die Kritik hier nicht bloß darin, dass Heidegger das Mitsein nicht eingehend vertieft oder es ‚meistens‘ mit der Uneigentlichkeit assoziiert hat, sondern, dass laut Heidegger die Eigentlichkeit wesentlich solipsistisch zu gewinnen ist.

20Dies lässt sich auf der Basis unterschiedlicher Analysen von Heidegger zeigen. Erstens haben verschiedene Beiträge ausgeführt, dass dem Anderen als innerweltliches Seiendes stets und nur auf Basis der Welt begegnet werde, deren Bedeutsamkeit vom Anderen nicht mitbestimmt werde.41 Zweitens vertritt Heidegger in § 47 von SuZ die These, dass „keiner dem Anderen sein Sterben abnehmen [kann]“ (GA 2, 319); also argumentiert er für die prinzipielle Unmöglichkeit, für einen Anderen zu sterben. Der Tod des Anderen wird auf ein innerweltliches Phänomen zurückgeführt, das das Dasein nur ontisch erschüttert und daher für die mögliche Eigentlichkeit des Daseins nicht nur unnützlich ist, sondern sogar eine gegenläufige Wirkung hat: Das Sterben des Anderen sei ein „Ersatzthema“, das zu einer „völlige[n] Verkennung der Seinsart des Daseins“ führt, da es das Dasein denken lässt, dass es „beliebig durch anderes ersetzt werden [könne]“ (GA 2, 318). Nach Heidegger liegt es „im Miteinandersein“, dass „das Man dergestalt eine ständige Beruhigung über den Tod“ besorgt (GA 2, 337).42 Drittens kann laut Heidegger der Ruf des Gewissens keinesfalls die Stimme eines Anderen sein: „Der Ruf [kommt] zweifellos nicht von einem Anderen, der mit mir in der Welt ist“ (GA 2, 366). Im Gegenteil ruft „das Dasein […] im Gewissen sich selbst“ (GA 2, 365), genauer gesagt ist es „das im Grunde seiner Unheimlichkeit sich befindende Dasein“, das ruft (GA 2, 367). Folglich muss das „Hinhören auf das Man“ gebrochen werden, dessen „Vorgabe aber sich existenzial dadurch [ermöglicht], dass das Dasein als verstehendes Mitsein auf Andere hören kann“ (GA 2, 360).

21Diese entscheidenden Punkte an zentralen Stellen in SuZ zeigen, dass die Eigentlichkeit in Heideggers existenzialer Analytik solipsistisch zu gewinnen ist, ohne dass der Andere dabei eine konstitutive Funktion spielt. Wie Heidegger sehr deutlich schreibt: „Die eigenste Möglichkeit ist unbezügliche“, und die durch die Eigentlichkeit erreichte „Vereinzelung“ des Daseins „macht offenbar, dass alles Sein bei dem Besorgten und jedes Mitsein mit Anderen versagt, wenn es um das eigenste Seinskönnen geht“ (GA 2, 349f.).43 Laut Heidegger ist es die Angst, die das Dasein „vereinzelt“ und es „als ‚solus ipse‘“ erschließt (GA 2, 250). Deshalb haben unterschiedliche Beiträge argumentiert, dass die Angst bei Heidegger in ihrer Funktion Husserls phänomenologischer Reduktion entspreche.44 Sowohl Husserls Eigenheitssphäre als auch Heideggers Eigentlichkeit legen daher eine Betonung auf das ‚Eigene‘, das eine Ausschaltung des Anderen zur notwendigen Folge hat.

22Die Tatsache, dass bei Heidegger die Angst das Dasein „vereinzelt“ sowie als ein „solus ipse“ erschließt, bedeutet zwar nicht, dass das Dasein „ein isoliertes Subjektding“ wird und „in die harmlose Leere eines weltlosen Vorkommens“ versetzt wird (GA 2, 250). Die Entschlossenheit „löst als eigentliches Selbstsein das Dasein nicht von seiner Welt ab, isoliert es nicht auf ein freischwebendes Ich“, sondern „stößt“ das Dasein „in das fürsorgende Mitsein mit den Anderen“ (GA 2, 395), das nun auf Basis der Entschlossenheit „modifiziert“ und „bestimmt“ wird (GA 2, 394f.).45 Dass allerdings das Mitsein vom eigentlichen Dasein ‚bestimmt‘ wird, um dann eigentliches Mitsein zu werden, impliziert, dass das eigentliche Mitsein bloß ein ‚Konstituiertes‘ ist, das nie vor der Entschlossenheit des Daseins vorkommen kann, und dass der Andere im eigentlichen Mitsein immer erst nach der Konstitution eines solchen Mitseins eine Rolle spielt.46 Deswegen unterscheiden sich Heideggers Eigentlichkeit und Husserls Eigenheitssphäre letztlich darin, dass in der Eigentlichkeit die Daseinserfahrung nicht solipsistisch zu verstehen ist. Die zwei Begriffe sind einander allerdings ähnlich, weil beide durch eine Ausschaltung des Anderen gewonnen werden. So wie Husserls transzendentale Intersubjektivität vom Standpunkt des Ichs aus konstituiert wird, so verwandelt sich das Mitsein in eigentliches Mitsein lediglich auf Basis des entschlossenen Daseins und nicht dank des Anderen.

23Trotz dieser Passagen, die hoffentlich die Kritikpunkte an Heideggers Betrachtung des Mitseins nachvollziehbar gemacht haben, weisen bereits in SuZ einige Stellen auf andere Möglichkeiten hin. Heidegger schreibt in einem Passus, dass das Mitsein „auch die Bedeutsamkeit, d. h. die Weltlichkeit mit aus[macht]“ (GA 2, 164f.). Überdies schreibt Heidegger in zwei Passagen, dass die eigentliche Fürsorge nicht darin bestehe, dem Anderen „die ‚Sorge‘ abzunehmen, sondern erst eigentlich als solche zurückzugeben“ (GA 2, 163). Dadurch könne „das entschlossene Dasein zum ‚Gewissen‘ der Anderen werden“ (GA 2, 395) — eine Möglichkeit, die jedoch im offensichtlichen Widerspruch zu der These steht, dass der Ruf des Gewissens nicht von Anderen kommen könne (GA 2, 366).47 Auf Basis früherer Vorlesungen können diese in SuZ isolierten Aussagen weiterentwickelt werden.

24Die Vorlesung des SS 1924 über Aristoteles stellt für das Problem des Mitseins in Heideggers Denken eine besonders relevante Textgrundlage dar, da er hier — anders als in SuZ — die Dimension des Mitseins bzw. Miteinanderseins im Detail analysiert.48 Heideggers zentraler Punkt in der gesamten Vorlesung ist die Gleichursprünglichkeit zwischen den zwei aristotelischen Definitionen des Menschen als ζῷον λόγον ἔχον und ζῷον πολιτικόν, weil die Rede (der λόγος) stets nur im Miteinandersein zu verstehen sei (GA 18, 64). Diese zentrale Annahme bringt Heidegger tatsächlich zu anderen Ergebnissen bezüglich des Verhältnisses zwischen Mitsein und Welt als in SuZ: Die Bedeutsamkeit der Welt ist in dieser Vorlesung nicht etwas, auf dessen Basis das Dasein dem Anderen begegnet, sondern das Besorgen des Nützlichen wird nur möglich, solange es in der Dimension des Miteinanderseins vollzogen wird.49 Dies führt dazu, dass das Besorgen dem Fürsorgen untergeordnet wird und dass die Bedeutsamkeit der Welt lediglich in der sozialen Dimension der ‚πόλις‘ eröffnet wird: „Das Miteinandersprechen ist demnach der Leitfaden für die Aufdeckung des Grundphänomens der Entdecktheit des Daseins selbst als Sein-in-einer-Welt“ (GA 18, 139).

25Darüber hinaus ist in dieser Vorlesung Heideggers Analyse des Hörens von großer Relevanz.50 Das Hören wird in SuZ als eine „Möglichkeit des Redens“ definiert (GA 2, 214-218). In SuZ artikuliert die Rede sowohl die Dimension der Eigentlichkeit, indem das Dasein auf den Ruf des Gewissens hört, als auch die Dimension der Uneigentlichkeit, indem das Dasein dem Anderen zuhört. In der Vorlesung des SS 1924 wird das Hören als „die eigentliche αἴσθησις“ definiert (GA 18, 104),51 weil die Bedeutsamkeit der Welt nicht durch ein Sehen, sondern ausschließlich durch das Hören der Bedürfnisse der Gemeinschaft eröffnet werde. Aufgrund der Gleichursprünglichkeit des Miteinanderseins und des λόγος scheint es sogar so, dass die Dimension der Eigentlichkeit in Heideggers aneignender Interpretation von Aristoteles stets nur im Miteinandersein artikuliert wird: „Im Sein-in-der-πόλις sieht Aristoteles das eigentliche Leben der Menschen“ (GA 18, 46), und nur „im Gespräch und in der Rede“ hat der Mensch sowohl „sein eigentliches Dasein“ als auch „die Möglichkeit, in die sich das Dasein verfängt“ (GA 18, 108).

26In seiner Auslegung von Aristoteles’ Rhetorik ist ebenfalls Heideggers Thematisierung des Zusammenhangs zwischen Stimmungen und Miteinandersein bemerkenswert. Laut Heidegger ist „das εἶδος der πάθη ein Sichverhalten zu anderen Menschen“ (GA 18, 207). Wenn dies der Fall wäre, wie sollte dann die Angst charakterisiert werden, deren Funktion in der Vereinzelung des Daseins und folglich in der Ausschaltung der Anderen besteht? In der detaillierten Analyse der Stimmungen dieser Vorlesung kommt die Angst nach der Betrachtung der „Furcht“ kurz zur Sprache, und zwar mit folgender Anmerkung: „Wenn es unheimlich ist, fangen wir an zu reden“ (GA 18, 261). So sei die Angst die „daseinsmäßige γένεσις des Sprechens“ (GA 18, 261). Diese Anmerkung ist überraschend, wenn sie mit der These von SuZ verglichen wird, dass die Angst zu dem ‚schweigenden‘ Ruf des Gewissens führt.52 Da das Sprechen in dieser Vorlesung stets nur ein Miteinandersprechen ist, scheint es so, als ob die Angst das Dasein nicht vereinzelt, sondern zum Anderen führt.

27Unter den vielen Analysen, die in Heideggers früheren Vorlesungen zu finden sind, ist noch eine Vorlesung zu erwähnen, um auf eine konstitutive Rolle des Anderen im Prozess der Eigentlichkeit hinzuweisen, und zwar die Vorlesung über die Paulus-Briefe im WS 1920/21. Gemäß Heidegger erlebt Paulus nach seiner Bekehrung eine „zusammengedrängte Zeitlichkeit“ (GA 60, 119), die die Bezüge zu seinen Mitmenschen radikal verändert. Heidegger erklärt, dass Paulus in einer „apostolischen Verantwortung“ gegenüber seine „Mitwelt“ lebe (GA 60, 139) und dass Paulus’ Gemeinschaft sein „eigentliches Sein“ sowie sein „Bekümmerungsvollzug“ sei (GA 60, 140). Dieser bestehe darin, die „Not“ des Anderen „noch größer zu machen“ (GA 60, 107).53 Da Paulusʼ „eigentliche Situation“ von der „Bedrängnis“ — in dieser Vorlesung eine Vorform der „Angst“ — artikuliert wird (GA 60, 98), scheint es auch hier unmöglich, dass die Angst das Dasein vereinzelt, weil sie Angst vor dem „Werden“ des Anderen sei (GA 60, 140).

3. Schlussbetrachtung

28Husserls und Heideggers Positionen über die Intersubjektivität wurden in der Forschungsliteratur als entgegengesetzt dargestellt. Dies hat fundierte Gründe. Nicht nur kritisiert Heidegger Husserls Thesen explizit; die zwei Positionen weisen auch Aspekte auf, die nicht miteinander kompatibel sind. So denkt Husserl, dass die Eigenheitssphäre eine konkrete transzendentale Erfahrung sei, während für Heidegger die Eigentlichkeit das Dasein von den Bezügen zu Anderen nicht trennt. Darüber hinaus privilegiert Husserl die direkte Ich-Du Beziehung, während Heidegger das Mitsein stets in Bezug auf die Bedeutsamkeit der Welt beschreibt.

29Der vorliegende Beitrag hat jedoch gezeigt, dass zwischen den Thesen der beiden Philosophen auch bestimmte Parallelen bestehen, die es ermöglichen, eine solche Opposition zwischen den beiden zu hinterfragen. Sowohl gemäß Husserls als auch gemäß Heideggers expliziten Absichten kann die Dimension des ‚Eigenen‘ (die Eigenheitssphäre und die Eigentlichkeit) lediglich durch eine Ausschaltung des Anderen erreicht werden, daher nur vom Standpunkt des Ichs aus. Bei beiden Philosophen sind allerdings Hinweise zu finden, die auf eine konstitutive Rolle des Anderen für die Möglichkeit der Dimension des ‚Eigenen‘ hindeuten. Bei Husserl erweist sich die Annahme als zentral, dass der Andere in den Wahrnehmungsbereich des Ichs treten muss. Zudem zeigt Husserls Verweis auf die passiven Synthesen, dass der Andere derjenige ist, der diesen Konstitutionsprozess führt. Bei Heidegger belegen bestimmte Analysen in GA 18, dass das Mitsein ursprünglicher als die Bedeutsamkeit der Welt sei. Außerdem wurde ausgeführt, dass der Andere in Heideggers Auslegung von Aristoteles’ Rhetorik und Paulus’ Briefen das Gewissen für das Dasein werden kann, und überdies wurde gezeigt, inwiefern die Angst eine Bekümmerung für das Werden der Gemeinschaft sei. Diesem ‚Ungesagten‘54 der beiden Philosophen zufolge wird das ‚Eigene‘ nicht vom Standpunkt des Ichs, sondern lediglich vom Standpunkt des Anderen ermöglicht.

30Warum kommen Husserl und Heidegger — trotz der wesentlichen Unterschiede — zu einem solchen ähnlichen Ergebnis? Ist diese theoretische Affinität ein bloßer Zufall oder kann doch eine gemeinsame Prämisse gefunden werden, die grundlegend für die Analysen beider Autoren ist? Auf den letzten Seiten dieser Schlussbetrachtung wird ausgeführt, dass eine solche gemeinsame Prämisse die phänomenologische Methode ist, bzw. eine Anschauungskonzeption, die sowohl in Husserls als auch in Heideggers Auffassung dieser Methode entscheidend ist.

31Der phänomenologische Vorrang der Anschauung heißt zunächst, dass alles Erkennen prinzipiell auf Anschauung zurückgeführt werden kann. So führt Husserls genetische Phänomenologie logische Begriffe auf die Wahrnehmungen der transzendentalen Subjektivität zurück, während Heideggers Phänomenologie in einem Rückgang von objektiv gewordenen Phänomenen und Begriffen zur Existenz des Daseins besteht.55 Dieser Anschauungsvorrang heißt jedoch nicht bloß, dass Husserl und Heidegger die Rezeptivität gegenüber der Spontaneität des Subjekts bevorzugen. In Bezug auf die kantische Anschauungskonzeption erläutert Husserl bekanntlich, dass eine „Erweiterung“ des Anschauungsbegriffs „über das kategoriale Gebiet“ hinaus erforderlich ist (Hua XIX/2, 732), und thematisiert daher nicht nur eine sinnliche (rezeptive) Anschauung, sondern auch eine kategoriale Anschauung. Die in der kategorialen Anschauung enthaltene Verflechtung von Rezeptivität und Spontaneität wird von Husserl in seinen späteren genetischen Untersuchungen noch tiefgreifender weiterentwickelt. In Erfahrung und Urteil definiert er die Rezeptivität als die „unterste Stufe der Aktivität“ (EU, 83) und in seinen Vorlesungen über die passive Synthesis erklärt er, dass es zwischen Aktivität und Passivität keine starre Trennung gebe (vgl. Hua XI, 409).

32Auch bei Heidegger ist der Vorrang dieses phänomenologischen Anschauungsbegriffs ersichtlich. Das Seinsverständnis ist ein intuitives Verständnis des Seins des Seienden vor jeder begrifflichen Thematisierung des Seienden. Darüber hinaus charakterisiert Heidegger die Sorge ausdrücklich als ein „Sehen“ oder „Sichtigkeit“.56 Der Anschauungscharakter des Seinsverständnisses ist offensichtlich von Husserls kategorialer Anschauung inspiriert. Heidegger selbst betont mehrmals, inwiefern Husserls „entscheidende Entdeckung“ (GA 20, 34) der kategorialen Anschauung für seine Seinsfrage und für die Entwicklung des Seinsverständnisses eine zentrale Rolle gespielt hat.57 Laut Heidegger hat Husserls kategoriale Anschauung die ‚Gegebenheit des Seins‘ in der Wahrnehmung entdeckt, sodass ohne sie die „Seinsfrage“ nicht formuliert hätte werden können (vgl. GA 15, 378). Trotzdem bleibe Husserls kategoriale Anschauung in einer theoretischen Einstellung vollzogen und sei darüber hinaus nicht zeitlich konzipiert.58 Daher ist nach Heidegger Husserls Entdeckung in einer ursprünglicheren Bedingung fundiert (vgl. GA 2, 196),59 und zwar im Verstehen des Seins, das sowohl vortheoretisch als auch zeitlich sei.

33So birgt auch Heideggers Seinsverständnis die Verflochtenheit von Spontaneität und Rezeptivität, die in Husserls Anschauungsbegriff impliziert ist; er versteht aber diese Verwobenheit auf eigene Art und Weise, und zwar mit den Begriffen von Geworfenheit und Entwurf. Die Geworfenheit des Daseins sei immer mit dem Entwurf im zeitlichen (ekstatischen) Wesen des Daseins verflochten und das Sein des Daseins bestehe in drei zeitlichen Momenten der Sorge, die nicht voneinander getrennt werden können.60 In seiner Kant-Interpretation drückt er denselben Gedanken aus, indem er Kants transzendentale Einbildungskraft — die er mit dem Seinsverständnis identifiziert (vgl. GA 25, 425 und GA 3, 139) — als eine zeitliche dreifache Synthesis versteht, in der Spontaneität und Rezeptivität „in sich ursprünglich einig“ sind (GA 3, 159).

34Inwiefern werden sowohl Husserl als auch Heidegger von diesem komplexen Anschauungsbegriff zu dem Ergebnis einer wesentlichen Rolle des Anderen für die Konstitution des ‚Eigenen‘ geführt? Gerade insofern, dass dieser Anschauungsbegriff eine Beschreibung sowohl der aktiven als auch der passiven Momente der Fremderfahrungen erfordert. Bei den oben analysierten Passagen aus Husserls Werk wurde gezeigt, dass das Ich in den untersten Schichten des Konstitutionsprozesses gegenüber dem Anderen passiv ist. Dieses passive Moment wäre jedoch nutzlos, falls das Ich nicht fähig wäre, selbst synthetische Leistungen zu vollziehen und auf die Impulse des Anderen sinngemäß zu antworten. Der Andere soll zwar in den Wahrnehmungsbereich des Ichs reintreten und die Mutter erzeugt zwar mit ihrem Herzschlag die Zeitsynthesis des Kindes; das Selbst der Eigenheitssphäre sowie das Kind sollen jedoch mit eigenen Leistungen auf diese Impulse reagieren. In Heideggers Vorlesungen des SS 1924 und des WS 1920/21 soll das Dasein zwar auf einen entschlossenen Anderen hören, um eine mögliche Eigentlichkeit zu erreichen; es muss ihm aber zugleich sinngemäß antworten, d.h. selbst in die Grundstimmung der Bekümmerung für das Werden der eigenen Gemeinschaft eintreten.

35Husserl und Heidegger sind entgegen ihren Absichten von der phänomenologischen Methode gezwungen, ein solches aktives und zugleich passives Verhältnis dem Anderen gegenüber zu thematisieren. Ihr Nachdruck liegt zweifellos auf der Dimension des ‚Eigenen‘ und dadurch auf dem spontanen Aspekt des phänomenologischen Anschauungsbegriffs. Indem sie aber diesem Begriff treu bleiben, und daher das Begegnen mit dem Anderen in all seinen aktiven und passiven Aspekten beschreiben, kommen bestimmte Analysen beider Philosophen zu einer Konzeption der Alterität, die dann bekanntlich von anderen Phänomenologen weiterentwickelt und in ihren Potenzialen entfaltet wurde.

36Danksagung Eine frühere Version des vorliegenden Beitrags wurde auf der Frühlingsschule der Deutschen Gesellschaft für Phänomenologische Forschung vorgestellt, die Anfang 2024 in Freiburg stattgefunden hat. Ich möchte mich herzlich bei David Espinet, Edouard Mehl und Inga Römer für die Organisation der Tagung bedanken. Ich möchte auch allen anderen Vortragenden und Zuhörenden für die bereichernden Diskussionen zur Problematik der Intersubjektivität meine Dankbarkeit ausdrücken. Darüber hinaus bin ich zwei anonymen Gutachter:innen der Bulletin d‘analyse phénoménologique für ihre konstruktiven und bereichernden Kommentare sehr dankbar. Schließlich möchte ich Hendrik Heß und Lena Rudolph für die sprachliche Überarbeitung des Manuskripts danken.

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Notes

1 Heideggers Analyse des ‚Mitseins‘ erfolgt in GA 2, 152-173.

2 Vgl. GA 2, §§ 25 und 26.

3 Z. B. unterscheidet Zahavi (2018, 750) zwischen Husserls „dyadic face-to-face encounters“ und Heideggers „more anonymous and communal forms of being-with-others“. Gallagher und Jacobson (2012) verwenden Trevarthens Unterscheidung zwischen „primary intersubjectivity“ — d. h. der fundamentaleren Ebene der Ich-Du Beziehung — und „secondary intersubjectivity“ — d. h. der fundierten Ebene der Begegnung mit Anderen auf Basis praktischer Kontexte —, um Heideggers Position auf die „secondary intersubjectivity“ zu beschränken und letztlich zu kritisieren. Dieses Verständnis von Heideggers Position wurde schon unmittelbar nach der Veröffentlichung von Sein und Zeit von Löwith (1928) und später von Sartre (1943, 285) vertreten.

4 In den Cartesianischen Meditationen bildet das Problem der Intersubjektivität ein Problem der transzendentalen Phänomenologie. Jedoch ist dies bei Husserl nicht die einzige Perspektive über die Intersubjektivität. Die Intersubjektivität scheint schon immer vorausgesetzt zu sein, wenn Husserl über die „Ontologie der Lebenswelt“ spricht. Kern argumentiert, dass in der fünften Meditation sowohl die „mundane“ als auch die „transzendentale“ Perspektive anwesend sind und dass Husserl die beiden „vermengt“ (Kern, Einleitung zu Hua XV, XIX f.). Aus diesem Grund sei „Husserl in der fünften Meditation hinter dem von ihm erreichten Stand der Intersubjektivitätsproblematik zurückgeblieben“ (Kern, Einleitung zu Hua XV, XX f.). Depraz (2012, 448) unterscheidet zwischen zwei Wegen zur Intersubjektivität bei Husserl, und zwar einem cartesianischen Weg, sowie einem Weg durch die Lebenswelt.

5 Gemäß Husserl ist das „Phänomen der Welt […] in einstimmiger Erfahrung“ gegeben, weil „Fremdes sinnmitbestimmend auftritt“ (Hua I, 126).

6 Durch die Reduktion auf die Eigenheitssphäre wird deswegen „von allen Bestimmungen der phänomenalen Welt, die in ihrem Sinne auf Andere als Ichsubjekte verweisen und sie danach voraussetzen“, abgesehen (Hua I, 126f.).

7 Hier ist anzumerken, dass Husserl in einem Text in Hua XV die solipsistische Welt von der primordialen Welt unterscheidet, weil in der solipsistischen Welt eine „Genesis“ der „intersubjektiven menschheitlichen Welt“ denkbar sei (Hua XV, 51). Es scheint hier daher sogar, dass die primordiale Sphäre noch radikaler als eine solipsistische Erfahrung wäre.

8 In dieser Eigenheitssphäre finde das Ego seine „immanente Zeitlichkeit“ (Hua I, 132) und die in dieser enthaltenen „sinnliche[n] Data“ (Hua I, 134), sein „psychische[s] Leben“ (Hua I, 129) und seinen Leib, indem das Ich „jeweils mittelst der einen Hand die andere, mittelst einer Hand ein Auge usw. wahrnehmen kann“ (Hua I, 128). Überdies erfahre es sich selbst, indem es die Welt konstituiere (vgl. Hua I, 130), und letztlich finde das Ich durch einen progressiven Prozess von weiteren Wahrnehmungen „transzendente Gegenstände“, die aber von den Apperzeptionen des Ichs „konkret unabtrennbar konstituiert“ seien (Hua I, 134).

9 Obwohl Husserl die Reduktion auf die Eigenheitssphäre eine „Abstraktion“ nennt (Hua I, 125-127), ist es insgesamt eindeutig, dass laut Husserl diese Reduktion einer konkreten Erfahrung entspricht. Allgemein kann die Reduktion — wie Held betont — „niemals in einer abstraktiven Weglassung bestehen“ (Held 1966, 21).

10 „Ich kann offenbar nicht das Fremde als Erfahrung haben, also nicht den Sinn objektive Welt als Erfahrungssinn haben, ohne jene Schicht [d. h. die Schichten der Welt in der Eigenheitssphäre] in wirklicher Erfahrung zu haben, während nicht das Umgekehrte der Fall ist“ (Hua I, 127).

11 Vgl. Hua XV. 77.

12 Vgl. Hua XV, 39.

13 Denn der Andere ist zunächst — wie die anderen Objekte — lediglich eine „Bestimmungsstück meiner Selbst“, also streng genommen von anderen transzendenten Gegenständen nicht unterschiedlich (Hua I, 140; vgl. auch Hua I, 128).

14 Das Ich habe in seiner Eigenheitssphäre zu seinem „Leib“ Zugang, indem es „jeweils mittelst der einen Hand die andere, mittelst einer Hand ein Auge usw. wahrnehmen kann“ (Hua I, 128). Dieses Phänomen der „Doppelempfindung“ wurde bekanntlich von Merleau-Ponty eingehend vertieft. Vgl. dazu Moran (2017, 31f.).

15 In den Cartesianischen Meditationen definiert Husserl die Assoziation als „das universale Prinzip der passiven Genesis“ (Hua I, 113).

16 Nach der Paarung wird es laut Husserl aber noch nicht deutlich, inwiefern der Leib des Fremden letztlich nicht als ein „zweiter eigen[er] Leib“ verstanden wird (Hua I, 143). Der letzte Schritt der Fremderfahrungskonstitution bestehe darin, den Unterschied zwischen der Gegebenheitsweise des eigenen Leibs von der Gegebenheitsweise des Leibs des Anderen zu thematisieren. Während der eigene Leib als ein „zentrale[s] Hier“ gegeben wird (Hua I, 145), sei der Leib des Anderen in „einer einheitlichen transzendierenden Erfahrung gegeben“ (Hua I, 144), deshalb als ein „Dort“ (Hua I, 146). Durch die „Kinästhesen“ kann das Ich „jedes Dort in ein Hier verwandeln“ (Hua I, 146), d. h., es kann sich vorstellen, da zu sein, als ob es von einer anderen Position als die, die es gerade hat, wahrnehmen könnte. Auf Basis der analogischen Übertragung wird der Andere „nicht einfach als Duplikat meiner selbst“ apperzipiert (Hua I, 146), sondern es „erinnert an mein körperliches Aussehen, wenn ich dort wäre“ (Hua I, 147). Somit wird der Andere als ein alter ego konstituiert und nicht bloß als ein Duplikat des Ichs.

17 In Totalität und Unendlichkeit hat Lévinas diese Kritik sehr deutlich dargestellt (vgl. Lévinas, 1961, 63) und die Unmöglichkeit solcher rein egologischen Erfahrung auch durch den „Mythos von Gyges“ erörtert (vgl. Lévinas, 1961, 55, 88-92). In der Husserl-Forschung wurde diese Kritik unter anderen von Theunissen (1965, insbesondere 151-155), Held (1972, insbesondere S. 44f.), Franck (1981, insbesondere S. 167) und Bancalari (2003, 19-82) ausgeführt.

18 Vgl. auch Hua I, 143: „Durch das ego kommt es erst zur Paarung, wenn der Andere in mein Wahrnehmungsfeld tritt“.

19 Husserl nennt diese Ähnlichkeit das „Motivationsfundament für die analogisierende Auffassung“ des Körpers des Anderen (Hua I, 140).

20 Laut Waldenfels sind die Anderen mir „ursprünglich gegenwärtig und vertraut […] nicht als Gegenstand einer besonderen Intentionalität, sondern als mitfungierend in aller Intentionalität“ (Waldenfels, 1971, 135). Husserl ist dies bewusst, da für ihn die Fremderfahrungskonstitution die Konstitution des Anderen als fungierendes Subjekt betrifft. Dass sich die primäre Begegnung mit dem Anderen nicht auf Basis einer physischen Ähnlichkeit verstehen lässt, wurde von anderen Phänomenologen auch betont. Laut Heidegger ist die primäre Begegnung mit dem Anderen pragmatischer bzw. „besorgender“ und „fürsorgender“ Natur. Nach Levinas ist sie ethischer Natur.

21 Solche Passagen sind nicht isoliert und betreffen vor allem Husserls Analyse der Person und der Sozialität. Im Text Nr. 29 von Hua XV (datiert 1931/1932) schreibt Husserl: „Wenn wechselseitig aktiv eingehende Einfühlung hergestellt ist“, ist „damit noch keine soziale Einigung, keine Kommunikative, hergestellt, kein aktueller Ich-Du Konnex als diejenige Aktualität, die Voraussetzung ist für die habituellen Ich-Du- und Wir-Einheiten […]. Was noch fehlt, ist Vorhabe und Wille der Kundgebung — es fehlt der spezifische Akt der Mitteilung (des Sich-mitteilens), der als Gemeinschaft schaffender lateinisch geradezu communicatio heißt“ (Hua XV, 472f.). Später in demselben Text bemerkt Husserl auch: „Ich bin nicht nur für mich, und der Andere ist nicht mir gegenüber als Anderer, sondern der Andere ist mein Du, und redend, zuhörend, gegenredend bilden wir schon ein Wir, das in besonderer Weise vereinigt, vergemeinschaftet ist“ (Hua XV, 476).

22 Für eine andere Analyse dieser Annahme, siehe Franck (1981, 123-125). Er bemerkt, dass sie eine radikale Zufälligkeit der Begegnung mit dem Anderen impliziert.

23 Der Andere kann „nie ein Selbst-da“ werden (Hua I, 139). Die apperzeptive Übertragung schließt „eine Ausweisung durch eigentliche Wahrnehmung“ aus (Hua I, 140). Der Andere kann „nie wirklich zur Präsenz kommen“ (Hua I, 142). Husserl spricht ebenfalls von dem Anderen als „das originaliter Unzugängliche“ (Hua I, 143) oder als „das original Unzugängliche“ (Hua I, 144). Vgl. auch Hua I, 148.

24 Zu diesem Unterschied vgl. auch Hua XV, 101f.

25 Zahavi (2012, 183) bemerkt, die Einfühlung sei zum einen ähnlich zu der Wahrnehmung, weil sie direkt unmittelbar und nicht schlussfolgernd sei, zum anderen sei sie aber von der Wahrnehmung unterschiedlich, weil sie ihren Gegenstand nicht zur ursprünglichen Gegebenheit bringen kann. Zudem fügt Moran (2017, 33) hinzu, dass die Einfühlung mehr als die Wahrnehmung ‚sehen‘ kann.

26 Hua I, 137. Dadurch kehrt Husserl mit dieser Definition das zeitliche Verhältnis der Entdeckung der Alterität in der Eigenheitssphäre um: In der Eigenheitssphäre wurde zunächst nicht die Alterität des Anderen, sondern lediglich die Alterität des Gegenstandes entdeckt. Der Gegenstand erwies sich auch als fremd vom Ich, insofern er ein „transzendenter“ Gegenstand sei (Hua I, 134). Ich stimme mit Zahavi (1996) überein, dass die These der prinzipiellen Unaustauschbarkeit der Perspektiven nicht im Widerspruch mit Husserls allgemeiner These, dass die transzendentale Subjektivität schon immer intersubjektiv sei, steht, weil genau die Differenz zwischen den Subjekten dasjenige ist, was der Intersubjektivität Bedeutung verleiht. Falls der Andere lediglich ein Doppelgänger wäre, würde es auch keine Intersubjektivität, sondern nur Solipsismus geben.

27 Vgl. Hua XV, 19: „Würde ich den Ort des Anderen einnehmen und er den meinen, so würden seine Abläufe die gleichen sein als wie ich sie jetzt habe an meiner Stelle und vice versa“. Diese Aussage ergibt nur Sinn, wenn Husserl hier meint, dass derselbe Gegenstand aus derselben Perspektive von zwei unterschiedlichen Subjekten angeschaut werden kann — mit anderen Worten, dass der Inhalt der Wahrnehmung für zwei Subjekte dasselbe bleibt. Die ‚Abläufe‘ müssen dann in einem objektiven Sinn und nicht in einem subjektiven verstanden werden, denn das subjektive Erlebnis desselben bleibt unterschiedlich, auch wenn der Inhalt dasselbe ist.

28 Zahavi (2012, 181) bemerkt anknüpfend an Gurwitsch, dass die analogische Auffassung lediglich dann funktioniere, wenn der Körper des Anderen schon als Leib verstanden werde. Daher muss die analogische Übertragung den Anderen bereits voraussetzen.

29 Hua I, 136. Vgl. auch Hua XV, 19.

30 Siehe dazu Yamaguchi (1982, insbesondere 83 f.). Seine Studie versucht, den Konstitutionsprozess der transzendentalen Intersubjektivität in der fünften Meditation auf Basis einer Analyse der Paarung als passiver Synthesis zu verstehen. Über die Spannung zwischen statischer sowie genetischer Analyse in dieser Meditation, siehe ebenfalls Held (1972, 24f., 48-51), Bancalari (2003, 44-53) und Schnell (2010, 18).

31 Vgl. dazu auch Hua XV, 29.

32 Husserl erklärt dies mit dem folgenden Beispiel: „Das Kind, das schon Dinge sieht, versteht etwa erstmalig den Zwecksinn einer Schere, und von nun ab sieht es ohne weiteres im ersten Blick Scheren als solche“ (Hua I, 141).

33 Vgl. Jansen (2015, insbesondere S. 68). Siehe dazu auch De Palma (2001), der allgemein und nicht nur in Bezug auf die passiven Synthesen von einer Konstitution „a parte obiecti“ spricht.

34 Siehe dazu auch Hua XV, 582. Vgl. dazu die Analyse der „elementaren Typen“ in Lohmar (2008, 133-141) sowie das Beispiel der Muttermilch.

35 Zahavi (2018, 734) unterscheidet zwischen zwei „Narrativen“ in der Geschichte der Problematik der Intersubjektivität. Zum einen sei Husserl als derjenige betrachtet worden, der die Debatte über die Intersubjektivität bloß eröffnet habe, seine eigenen Thesen dazu seien aber mangelhaft und somit von den späteren Phänomenologen kritisiert worden. Zum anderen habe Husserl — und dies ist das Narrativ, das Zahavi vertritt — die Problematik der Intersubjektivität tiefgehend entwickelt und habe eine entscheidende und positive Rolle in Bezug auf die Geschichte dieses Problems gespielt. Ich stimme Zahavi zu, dass das zweite Narrativ plausibler ist. Der Unterschied zwischen Husserls expliziten Absichten bezüglich der Konstitution der transzendentalen Intersubjektivität sowie den in Husserls Texten enthaltenen Möglichkeiten scheint mir jedoch relevant, um die Unterschiede mit späteren Positionen nicht zu marginalisieren.

36 Husserl bezeichnet die transzendentale Intersubjektivität in einem Passus aus Hua XV als eine „Urtatsache“ (Hua XV, 366).

37 Vgl. auch Hua VIII, 480: Die „volle Universalität der transzendentalen Subjektivität“ ist die „Inter-subjektivität“. Husserl schreibt auch: Das Subjekt wird „zum Ich und damit zum personalen Subjekt […], in der Ich-Du-Beziehung“ (Hua XIV, 171).

38 Vgl. Heideggers Betrachtung der „Einfühlung“ in GA 2, 166f. Vgl. auch GA 21, 236, wo Heidegger die folgende „konstruktive Voraussetzung“ kritisiert: „Zunächst bin ich mir nur selbst gegeben — und wie stellt es nun dieser solus ipse an, dass er zu einem Du hinausgelangt?“.

39 Vgl. GA 2, §§ 25 und 26.

40 „Durch das Dasein Anderer ist das eigene schon allein dadurch von Grund aus und ohne sein Zutun ein für allemal bestimmt, dass es ohne das Dagewesensein bestimmter Anderer überhaupt nicht da und nicht so wäre wie es ist“ (Löwith, 1928, 1).

41 Dem Anderen wird „aus der Welt her“ begegnet, „in der das besorgend-umsichtige Dasein sich wesenhaft aufhält“ (GA 2, 159); „Dasein versteht sich zunächst und zumeist aus seiner Welt, und das Mitdasein der Anderen begegnet vielfach aus dem innerweltlich Zuhandenen her“ (GA 2, 160). „Das Miteinandersein gründet zunächst und vielfach ausschließlich in dem, was in solchem Sein gemeinsam besorgt wird“ (GA 2, 163); „Es ist ein Irrtum zu meinen, die Ich-Du-Beziehung sei als solche primär konstitutiv für die mögliche Entdeckung der Welt“ (GA 25, 315). Diese Kritik ist bereits bei Löwith (1928) und Sartre (1943, 285) zu finden. Bolduc (1993) und Bancalari (1999) argumentieren, dass zwischen Welt und Mitsein keine Gleichursprünglichkeit besteht, sondern es einen Vorrang der Welt gibt. Dieselbe Kritik wurde auch von Gallagher und Jacobson (2012) geäußert, obwohl sie sich nicht auf die Ebene von Heideggers Fundamentalontologie stellen. Für eine Verteidigung von Heideggers Position diesbezüglich, siehe Peters (2018).

42 Das Thema des Todes bei Heidegger wurde bekanntlich eingehend kommentiert. Lévinas Position ist diesbezüglich besonders radikal: Der Tod des Anderen sei konstitutiv für den eigenen Tod (1993, 22); laut Lévinas ist der Tod nicht die „Möglichkeit der Unmöglichkeit“, sondern die „Unmöglichkeit der Möglichkeit“ der Erfahrung (Lévinas, 1983, 92). Wenn auch in kritischer Perspektive, bemerkt Bancalari (1999, 194), dass dem Tod des Anderen in der existenzialen Analytik eigentlich ebenfalls eine positive Funktion zukommt, denn nur durch den Tod des Anderen wird der eigene Tod „als existenziales Phänomen angezeigt“ (GA 2, 320).

43 Vgl. auch GA 2, 158: „Die Anderen sind vielmehr die, von denen man selbst sich zumeist nicht unterscheidet“.

44 Courtine (1984, 211-245, insbesondere 232; 1990, 207-247, insbesondere 234-243), Franck (1986, 73f., 76), Brisart (1991, 114-127), Bernet (1994, 255-267). Theunissen (1965, 176-179) hat die Parallele zwischen Heideggers „Vereinzelung“ sowie Husserls „Reduktion“ bemerkt. Jedoch verbindet er die Vereinzelung eher mit dem „Tod“ als mit der „Angst“, denn der Tod löst „alle Bezüge zu anderem Dasein“ (GA 2, 333). „Angst“ und „Tod“ sind aber nicht zwei Begriffe, die bloß nebeneinanderstehen, sie sind vielmehr miteinander verflochten: „Das Sein zum Tode ist wesentlich Angst“ (GA 2, 353).

45 Vgl. Livet (1989, 155).

46 Da hier die Rolle des Anderen der entscheidende Punkt für eine mögliche Eigentlichkeit ist, wird Heideggers Beschreibung des eigentlichen Mitseins nicht kommentiert. Jedoch kann kurz angemerkt werden, dass Heideggers Charakterisierung des eigentlichen Mitseins nicht unproblematisch angenommen werden kann. Das eigentliche Mitsein wird durch die Kategorie des „Volkes“ beschrieben, das ein gemeinsames „Schicksal“ habe (GA 2, 508). Dadurch wird das Volk immer einem anderen Volk gegenüberstehen. Das Kriterium der Zugehörigkeit zu einem Volk ist nach Heidegger „Blut und Boden“ (GA 16, 132, 151). Somit gibt es nicht nur ein Problem in der Art und Weise, wie Heidegger das Verhältnis zwischen Mitsein und Eigentlichkeit beschreibt; auch dessen Betrachtung des eigentlichen Mitseins in SuZ und anderen Passagen ist nicht akzeptabel.

47 Bekanntlich argumentiert Derrida (1994, 341-365, insbesondere S. 358), dass Heidegger sich auf ein Anderes bezieht, wenn er von einer „Stimme des Freundes“ spricht (GA 2, 217). Trotz der Schönheit von Derridas Analysen scheint seine These aus exegetischer Perspektive nicht fundiert, da Heidegger offensichtlich mit diesem Satz die Stimme des Gewissens meint. Dazu siehe auch Courtine (1990, 327-353).

48 Vor ihrer Veröffentlichung war die Thematik dieser Vorlesung nur dunkel in SuZ angedeutet, wenn Heidegger Aristoteles Rhetorik als „die erste systematische Hermeneutik der Alltäglichkeit des Miteinanderseins“ definiert (GA 2, 184).

49 „Das Besorgen ist an sich selbst ein Sprechen, ein Besprechen“ (GA 18, 61).

50 Für eine Untersuchung über Heideggers „Phänomenologie des Hörens“ siehe Espinet (2016).

51 Vgl. auch GA 18, 44.

52 GA 2, 393: „Das Gewissen ruft nur schweigend, das heißt der Ruf kommt aus der Lautlosigkeit der Unheimlichkeit und ruft das aufgerufene Dasein als still zu werdendes in die Stille seiner selbst zurück“.

53 Diese These wird in SuZ wiederholt, denn die eigentliche Fürsorge nimmt nicht die Sorge des Anderen ab, sondern sie gibt dem Anderen seine Sorge erst zurück (vgl. GA 2, 163). Der Unterschied zwischen SuZ und der früheren Vorlesung über Paulus scheint jedoch darin zu liegen, dass das eigentliche Sein des Daseins in SuZ nicht in dem Werden der Gemeinschaft liegt, so wie es bei Paulus der Fall ist. So wird das eigentliche Sein nicht auf Basis der Angst des Werdens des Anderen gewonnen, sondern auf Basis der Angst vor dem eigenen Tod.

54 ‚Ungesagtes‘ wird im Heidegger’schen technischen Sinne verwendet. Daher heißt ‚Ungesagtes‘ hier nicht, dass Husserl oder Heidegger zur konstitutiven Rolle des Anderen bloß nichts ‚gesagt‘ haben. Diese These liegt in ihren Texten, jedoch nicht als eine thematisch entwickelte, sondern als eine Möglichkeit, die nicht weiterverfolgt und weiterentwickelt wurde.

55 Diese Aufgabe von Heideggers hermeneutischer Phänomenologie wird zwischen 1919 und 1927 unterschiedlich formuliert. In den früheren Freiburger Vorlesungen argumentiert Heidegger, dass die Aufgabe der Phänomenologie darin besteht, die aufgrund der verfallenden Tendenz des Lebens objektivierten Phänomene auf den Lebensvollzug zurückzuführen. In den Marburger Vorlesungen wird Heidegger von ‚Seinsweisen‘ und nicht vom ‚Leben‘ sprechen; die Aufgabe bleibt jedoch dieselbe, und zwar zu zeigen, inwiefern Phänomene, die auf Basis der Vorhandenheit verstanden werden, ihren Ursprung in existenzialen Phänomenen haben.

56 Im Kontext seiner Kritik an Husserls theoretischer Konzeption des Bewusstseins erläutert Heidegger: „Jede Sorge als solche ist Sehen. Daß sie Sehen ist, ist nicht eine äußerliche Bestimmung, sondern ist mit ihrem Sein gegeben. Eine Sichtigkeit gehört mit zum Sein im Sinne des Seins innerhalb einer Welt. Diese Sichtigkeit ist als solche in jeder Weise des menschlichen Seins (des Daseins) da, auch in der Grundweise des Daseins, in der Sorge. Diese Sichtigkeit hat nichts mit theoretischer Erkenntnis zu tun, sondern ist eine Vollzugsart der Grundverfassung des Daseins, die als Entdecktheit aufgewiesen werden soll. […] Jede Sorge hat ihren bestimmten Hinblick, und der Hinblick ist im Sorgenvollzug lebendig als die jeweilig sich vollziehende Umsicht […]“ (GA 17, 104f.). Dass Heidegger dem Seinsverständnis einen Anschauungscharakter zuschreibt, wird auch aus einigen anderen Hinweisen ersichtlich, z. B. aus bestimmten Anmerkungen in seiner Kant-Interpretation. Hier identifiziert er sein Seinsverständnis mit Kants transzendentaler Einbildungskraft (vgl. GA 25, 425 und GA 3, 139). Er betont jedoch, dass die transzendentale Einbildungskraft eine besondere Art von Anschauung ist (vgl. GA 25, 278 und GA 3, 131f.) und zwar eine „denkende Anschauung“ (GA 3, 101; vgl. auch GA 3, 30, GA 25, 78, 138). Darüber hinaus wurde den Anschauungscharakter des Seinsverständnisses in der Forschungsliteratur schon bemerkt (vgl. Kisiel 1983, 208; Dahlstrom 2001, 92), wenn auch nicht ausdrücklich thematisiert. So merkt Kisiel an, dass Heidegger in GA 20 „Anschauung“ durch „Verständnis“ systematisch ersetzt (Kisiel 1983, 208).

57 Vgl. GA 20, 34-122; GA 15, 378.

58 Diese Kritikpunkte werden vor allem in GA 17 und GA 20 ausführlich erläutert, man kann sie aber auch in anderen Vorlesungen finden.

59 In Sein und Zeit schreibt Heidegger, dass „‚Anschauung‘ und ‚Denken‘ beide schon entfernte Derivate des Verstehens [sind]“ und „auch die phänomenologische ‚Wesensschau‘ im existenzialen Verstehen [gründet]“ (GA 2, 196). In dieser Passage scheint es auf dem ersten Blick so, dass Heidegger sein Verstehen vom Anschauungsbegriff unterscheidet; dies ist jedoch nicht der Fall. Im ersten Satz kritisiert Heidegger nur die kantische Trennung zwischen Anschauung und Denken als zwei Erkenntnisstämmen, die voneinander unabhängig fungieren könnten. Laut Heidegger hat Husserl mit seinem Anschauungsbegriff diese Trennung schon überwunden, aber sogar Husserls Anschauungsbegriff sei aus den oben erwähnten Gründen nicht ursprünglich genug konzipiert und daher im Verstehen fundiert. Mit anderen Worten unterscheidet Heidegger sein ‚Seinsverständnis‘ von diesen zwei Anschauungskonzeptionen, aber nicht von einem breiteren phänomenologisch-hermeneutischen Begriff von Anschauung.

60 Vgl. GA 2, §65.

Pour citer cet article

Francesco Scagliusi, «Die Rolle des Anderen bei Husserls transzendentaler Intersubjektivität und bei Heideggers Mitsein», Bulletin d'Analyse Phénoménologique [En ligne], Volume 21 (2025), Numéro 2, URL : https://popups.uliege.be/1782-2041/index.php?id=1535.

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