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- Volume 18 (2022)
- Numéro 3
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Realismus und Idealismus bei Husserl
Abstract
I aim to show that Husserl’s thinking contains both realistic and idealistic doctrines, which are in conflict with one another. Husserl identifies the real with the sensuous contents, whose structure is grounded in their objective peculiarity. However, he believes that only acts and sensations are sensuously given in a proper and original way, while things spring from the animation of sensations by acts. In this way his anti-idealism, according to which only the sensuous is real, changes into idealism, according to which only the psychical is real. The article has following structure. After some clarifications on the concepts of idealism and realism (§ 1), I show that at the basis of phenomenology are the realistic primacy of real objects over ideal objects and the idea of a material lawfulness of experience (according to which the world-constituting connections do not originate from the dative, but from the content of the givennesses) and that in Husserl’s view the transcendental Ego has not an ontological, but only an epistemological primacy (§§ 2-3). For, according to Husserl the principle of sensuous constitution lies in the pre-given ego-foreign contents and the world-annihilation can occur also due to objective grounds (§§ 4-5). Then I argue that the sensuous relativity is an ontological characteristic of real objects, because it does not depend on the subject that experience them, but on their essence, and that Husserl’s proof of transcendental idealism rests on the equalization of the real with the sensuous, i.e., with the correlate of possible perception (§§ 6-7). Afterward I explain that the ambiguity of phenomenology is connected with that of the word “appearance”, or “phenomenon” (which can be referred to both the appearing, namely to immanent occurrences, and to that which appears, namely to transcendent objects) and that the ambiguity of reduction depends thereon (§ 8). Finally, I show that Husserl’s idealism rests on the view that only what is immanent to consciousness is truly given, for it consists in the reduction of the world to consciousness, i.e., in the dissolution of objects into immanent occurrences, which is why it is nothing but psychologism and it contradicts the principles of phenomenology (§§ 9-11).
Table des matières
1. Einleitung
1Um an unser Problem richtig heranzugehen, ist folgendes zu berücksichtigen.
21) Als real kann entweder das Intelligible oder das Sinnliche gelten, also entweder „der Gedanke“ oder das „Gegebene“ (Hegel 1969a, 162), entweder „das Gedachte und de[r] Begriff“ oder „der gegebene Stoff der Anschauung und das Mannigfaltige der Vorstellung“ (Hegel 1969b, 259), entweder „die Idealität“ oder „das unmittelbare, äußere Dasein“ (Hegel 1970a, § 91 Z). In zweiten Fall haben wir den „Realismus“, nach dem „die Dinge, wie sie unmittelbar sind, eine wirkliche Existenz haben“, im ersten Fall den „Idealismus“, der „den Ideen allein Realität zuschr[eibt], indem er behauptet, dass die Dinge, wie sie in der Einzelheit erscheinen, nicht ein Wahrhaftes sind“ (Hegel 1971a, 571f.), sondern „nur Schein“, mithin „nichts an sich“ (Hegel 1970b, § 246 Z). Denn der Realismus lässt die Objektivität des Gedankens „aus den Wahrnehmungen entstehen“, während der Idealismus „von der Selbständigkeit des Denkens ausgeht“ (Hegel 1971b, 66).
32) Husserls Denken enthält sowohl realistische als auch idealistische Lehren, die miteinander in Konflikt stehen. In der Literatur werden Husserls Widersprüche meistens verdrängt und übersehen, dass er in den Psychologismus und die Bildertheorie zurückfällt sowie dass sein Idealismus ein psychologischer oder subjektiver ist.1 Als das Wirkliche gilt Husserl das Sinnliche. Er meint jedoch, dass Akte und Empfindungen sinnlich sind, ja dass sie das Ursinnliche bilden, weil sie das eigentlich Gegebene sind, während Dinge aus einer Beseelung der Empfindungen durch die Akte stammen. Wirklich im eigentlichen Sinne ist also nicht das Reale, sondern das Reelle oder Bewusstseinsimmanente, weshalb Akte und Empfindungen die wahrhafte Wirklichkeit darstellen. Dadurch verwandelt sich der Antiidealismus, demzufolge erst das Sinnliche wirklich ist, in Idealismus, demzufolge erst das Psychische wirklich ist.
43) Bei Husserl sind die Begriffe von Immanenz und Transzendenz mehrdeutig2 und reelle und intentionale Beschlossenheit der Welt im Bewusstsein werden öfters verwechselt. In seiner Behauptung, dass Bewusstsein kein Außerhalb hat (Hua I, 117; Hua XXXVI, 179), kann „Außerhalb“ in jedwedem oder lediglich in metaphysischem Sinne verstanden werden. Im ersten Fall besagt sie: Alles ist im Bewusstsein reell beschlossen und über die Subjektivität hinaus ist „nichts“ (Hua Mat VIII, 442). Im zweiten Fall besagt sie: Alles kann vom Bewusstsein intentional umfasst werden. Insofern nämlich das Ich seine Strahlen auf alles richten kann und überall sein kann, schließt es alles in seinem potentiellen Feld ein: Welt und Gegenstände gehören zum Ich in dem Sinne, dass sie für es greifbar sind und dessen Bereich ausmachen (Hua XIV, 278). Sie bilden das Nicht-Ich, das zum Ich als ichfremde Umgebung,3 d.h. „als Feld gehörig“ ist (Hua Mat VIII, 54). Dass sich nichts dem Bewusstsein prinzipiell entzieht, impliziert nicht, dass alles ihm reell einwohnt. Es gibt darum ein phänomenales Außerhalb, das „von außen her gegeben“ ist (Hua XVII, 86) und in äußerer Erfahrung selbsterfasst wird.
54) Öfters sind Husserls idealistisch lautende Behauptungen bloß Trivialitäten und seine Charakterisierungen des Gehalts des transzendental-phänomenologischen Idealismus keineswegs klar (Hopp 2020, 283, 270). Er behauptet z.B., dass der transzendental-phänomenologische Idealismus „nichts weiter ist als […] Selbstauslegung meines ego als Subjektes jeder möglichen Erkenntnis“ (Hua I, 118). Dass das jeweilige Ich das Subjekt jeder möglichen Erkenntnis ist, ist jedoch eine triviale Tatsache, die auch dann vorausgesetzt wird, wenn sie abgelehnt wird, weshalb deren Feststellung und Entfaltung keinen Idealismus implizieren. Hierbei gilt also, was Herbart in § 136 des Lehrbuchs zur Einleitung in die Philosophie schreibt: „Wer dies für Idealismus hält (wovon es ganz und gar verschieden ist), muss wissen, dass nach seinem Sprachgebrauch es kein anderes System gibt“. Ist der transzendental-phänomenologische Idealismus bloß Selbstauslegung meines ego als Subjektes jeder möglichen Erkenntnis, dann ist er kein Idealismus.
6Da es nur durch Erfahren und Denken erfassbar ist, ist das subjektunabhängige Sein das Korrelat möglicher Subjektakte. Die subjektive Ausweisung des objektiv Bestehenden ist unhintergehbar, insofern alles, darunter auch vermeintliche Dinge an sich, im Subjekt zur Ausweisung kommt. Wenn der Gegenstand als unabhängig vom subjektiven Sinn bestimmt wird, hat der Gegenstand für das Subjekt den Seinssinn eines Gegenstandes, der unabhängig vom Sinn besteht, den er für das Subjekt hat. Wer über Husserls Phänomenologie schreibt: „By claiming that the meaning of the being of the object depends on its intuitive givenness, which is a datum of the sole intentional consciousness, it promotes consciousness to the role of supreme judge of all issues concerning being“ (Bernet 2004, 19), dem ist die Frage zu stellen: Kann es einen höheren Richter als das Bewusstsein geben? Wer abstreitet, dass „Reales nur aus der Anschauung zu ziehen“ ist (Hua XXXII, 120) und der Seinssinn des Gegenstandes von dessen anschaulicher Gegebenheit abhängt, kann nicht anders, als solchen Seinssinn durch spekulatives Denken zu bestimmen, wobei es immerhin um bewusstseinsmäßiges Vorstellen geht, aber keine Berichtigung möglich ist, denn „berichtigen kann man nur in einer Sphäre gegebener Sachen“ (Husserls Brief an E. Spranger, ca. 1.IX.1918).
7Zwar liegt in Husserls Ansatz, dass „certain experiential facts entail certain physical facts“ (Smith 2003, 185): „If certain subjective processes occur in you, then – ipso facto – an object of a certain sort is present to your consciousness“ (ebd. 35). Aber daraus folgt keineswegs, dass „[p]hysical facts are ,nothing over and above‘ experiential facts“ (ebd. 185). Insofern Gegenstände lediglich durch Bewusstseinsprozesse gegeben sein können, ist die Behauptung, dass durch bestimmte Bewusstseinsprozesse bestimmte Gegenstände gegeben sind, eine Trivialität und impliziert nicht, dass Gegenstände nichts als Bewusstseinsprozesse sind. „Das erfahrene Ding ist eine ,außerbewusste‘ Einheit“ (Hua XIV, 256), da es „bewusst, aber nicht Bewusstsein“ ist (ebd. 51). Wie Lewis bemerkt, sind die Aussagen „Ich nehme einen Baum wahr“ und „Es gibt einen Baum dort draußen“ nicht äquivalent, insofern keine Wahrnehmung die Existenz ihres Korrelates verbürgen kann. Aber dessen ungeachtet besteht zwischen ihnen eine gewisse Äquivalenz, obwohl sie keineswegs dasselbe bezeichnen. Die Behauptung, dass die Existenz aus der Wahrnehmung ableitbar ist, impliziert jedenfalls keinen Idealismus (Lewis 1946, 200-202).
2. Sachhaltige Gesetzmäßigkeit und Vorzug der realen Gegenstände
8Der Streit zwischen Realismus und Idealismus betrifft die Frage, ob „dies, dass etwas Farbe ist, im Objekt oder im Subjekt, in der Seite der Tätigkeit oder der Seite der Passivität des Bewusstseins gegründet“ sei: Der Realismus „lässt dem Subjekt nur die formale Tätigkeit der Vergleichung der seienden Ähnlichkeit, der Idealismus, der die ideelle Seite des Gegensatzes als das absolut Reale, für sich Seiende, als absolute Substanz betrachtet, dem Objekt gar nichts“ (Hegel 1975, 291f.).
9Husserl vertritt den Realismus, weil er weder die Gegebenheit der Farben noch die ihrer Ähnlichkeit auf das Subjekt zurückführt, dem die Farben und ihre Ähnlichkeit gegeben sind. Denn es ist „eine eidetische Notwendigkeit der Bildung von sachhaltigen Ideen“, dass diese nur dann erfasst werden können, wenn ihre Einzelheiten „in ursprünglicher Passivität“ erfahren werden: Das Eidos „Farbe“ ist nicht erkennbar, wo keine singuläre Farbe sinnlich gegeben ist (Hua XXXVI, 147f.). Ideen stammen nämlich aus Impressionen (Hua XXXVII, 224; Hua XIII, 349; Hua XLI, 51), die „nichts Bewusstseins-Erzeugtes“, sondern „das bewusstseinsfremd Gewordene, Empfangene“ sind (Hua X, 100). Was die Ähnlichkeit betrifft, hängt sie von den Inhalten, und nicht von dem sie erfassenden Subjekt ab, da sie ein wesensgesetzlicher Zusammenhang, nämlich eine Ideenrelation ist (Hua XI, 400; Husserl 1972, 215). Dasselbe gilt von allen sinnlichen Wesensbeziehungen, die sich nach denselben sachhaltigen Wesensgesetzen wie sinnliche Inhalte konstituieren und ebenso passiv, d.h. ohne Eingreifen des Subjekts gegeben sind: Im Gegensatz zu den formalen Relationen, bei denen es um „ein subjektives In-Beziehung-Setzen und Bilden einer Beziehung“ geht (Hua XLI, 262), liegen die sachlichen Relationen „vor der Vernunftfunktion der Begrifflichkeit und des Urteils“ (Hua VII, 224) und ergeben eine „materiale“ oder „reale Einheit“ (Hua XIX, 291; Hua XXXI, 105), weil sie nicht durch das Denken, d.h. durch Verbindungsakte hergestellt werden, sondern der sachlichen Besonderheit der sinnlichen Inhalte entstammen.4 Der Gedanke einer sachhaltigen Gesetzmäßigkeit ist realistisch: Weltkonstituierende Zusammenhänge gründen nicht im Dativ, sondern im Sachgehalt der Gegebenheiten, weshalb die Struktur der Erfahrungswelt nicht vom Subjekt, sondern von der Natur der faktisch gegebenen sinnlichen Wasgehalte abhängt.5
10Da „alles Gegenständliche für mich ist als Geltendes“ (Hua XXIX, 267), haben alle Gegenstände Sinncharakter und die Unterscheidung zwischen Geltungssinn und Gegenstand ist verkehrt (Tugendhat 1967, 176f.). Bei den sinnlichen oder realen Gegenständen bestehen jedoch die Subjektakte in der Erfassung eines Sinnes, der nicht vom Subjekt gestiftet wird, sondern aus den sachlichen Zusammenhängen zwischen den sinnlichen Inhalten erwächst. Solche Gegenstände sind nämlich „in bloßer Erfahrung und vor den kategorialen Aktionen“ gegeben (Hua XVII, 297) und haben eine „passive Genesis“ (Ms. B IV 12/2a), weil sie sich durch eine „vor allem aktiven Denken“ liegende Synthesis konstituieren (ebd. 4b). Das Erfassen sinnlicher Gegenstände ist „ein bloßes Rezipieren eines vorkonstituierten Sinnes“ (Hua XXXI, 41), denn sie sind „passiv vorgegeben“ (Hua XI, 291), mithin „schon vor dem Erfassen ursprünglich da“ (Hua XXXIX, 40): Im Gegensatz zu Denkgebilden, die „für uns da aus unserer eigenen Denkaktivität“ und „ausschließlich von innen her gegeben sind“, sind äußere Objekte „ichfremd vorgegeben, von außen her gegeben“ und treten im subjektiven Erfahren „als schon im voraus daseiende“ auf (Hua XVII, 85f.). Dinge sind also nicht „vom Ich erzeugte“, sondern „ichfremde, dem Ich vorgegebene Gegenstände“, weil sie nicht „aus Ichakten, aus personalem Tun“ entspringen, sondern „ohne Beteiligung des Ich und seines Tuns gegeben“ sind (Hua XIII, 427).
11Das ist „ein fundamentalster Unterschied“ (Hua XI, 291), nämlich der Unterschied zwischen Realem und Idealem.6 Husserl vertritt den Primat der realen gegenüber den idealen Gegenständen. „Realität hat einen Seinsvorzug vor jedweder Irrealität, sofern alle Irrealitäten wesensmäßig auf wirkliche oder mögliche Realität zurückbezogen sind“ (Hua XVII, 177). „Alle begriffliche Wahrheit setzt Erfahrung, jeder Begriffsinhalt setzt erfahrbares Sein voraus, alles Sein setzt individuelles Sein voraus“ (Hua VIII, 408). „Reales“ heißt eben „individueller Gegenstand“ und ist „wahrnehmbar“ (Hua XVII, 457). Das real Seiende ist ein „Individuelles“, das Substrat möglicher Prädikate, aber nicht selbst Prädikat ist (Hua IX, 101 Anm.; vgl. Hua XXXII, 36f.).7 Das Ding ist zwar „eine Regel möglicher Erscheinungen“ (Hua IV, 86) und ist, „was es ist, nur als erfahrene oder als erfahrbare Einheit“ (Hua XXXVI, 68). Da aber seine Eigenschaften ein Ganzes bilden, geht es beim Ding um eine reale Einheit, die der sachlichen Eigenart der als Teile fungierenden Erscheinungsinhalte entstammt (Hua XLI, 66, 92), also nicht durch Denktätigkeit gestiftet wird, sondern ohne Eingreifen des Subjekts sinnlich gegeben ist. Dinge sind nichts als sinnliche Ganze, nämlich materiale Zusammenhänge sinnlicher Eigenschaften und die „Substanz“ nichts als die „Einheit des Realen“ (ebd. 276).
3. Cogito
12Nach Smith (2003, 28-33) liegt Husserls Denken die „transzendentale Einsicht“ zugrunde: Alles, was für mich ist, ist aus meinen Bewusstseinsakten und nur als mir mit seinem jeweiligen Sinne geltendes (Hua XVII, 241; Hua I, 75, 95, 115, 123), weshalb die objektive Welt mit allen ihren Objekten „ihren ganzen Sinn und ihre Seinsgeltung, die sie jeweils für mich hat, aus mir selbst“ schöpft (Hua I, 65). Solche Einsicht gestattet eine starke oder idealistische Fassung, wonach „everything other than consciousness itself is but a construction thrown up by consciousness, and its existence is dependent upon consciousness“ (Smith 2003, 30), und eine schwache oder triviale Fassung, wonach „something can exist ,for me‘ [...] only if I am around“ (ebd. 32). In letzterem Fall bildet sie jedoch nicht die von Husserl beanspruchte weltgeschichtliche Offenbarung, sondern die reinste Plattheit (ebd.) und impliziert keinen Idealismus (Hopp 2020, 246-252).
13Nun, die transzendentale Einsicht ist nichts als das cogito in phänomenologischer Interpretation: Mein Ich ist der intentionale Urgrund für alles, das ich als seiend bewusst habe (Hua XVII, 243f.; Hua VII, 226), und in funktionaler Hinsicht bin ich Voraussetzung der Welt, weil alles, also selbst die Existenz der Welt vor meiner Erkenntnis in meiner Erkenntnis zur Geltung kommt (Hua XXXIV, 243f., 280-282). Bei Husserl hat das cogito eben eine nur funktionale Vorrangigkeit (Eley 1982, 954) und ist kein Prinzip deduktiv-ontologischer Begründung (Hua VI, 193; Hua XXXV, 394). Denn er betrachtet den Schluss vom cogito auf eine Außenwelt als lächerlich oder widersinnig8 und meint, dass die „Apodiktizität des ,Ich bin‘ […] auf dem Boden der Weltgeltung ihren Sinn hat“ (Hua XXXIV, 469).
14Die Relativität jedes Seienden auf die transzendentale Subjektivität ist also bloß formal. Das transzendentale Ich „enthält keinerlei Prinzip, aus dem sich seine cogitata oder deren Wesensstrukturen ergeben könnten“, und fungiert als Geltungsgrund „nur in dem formalen Sinn, dass es der letzte Ort aller Ausweisung ist“ (Tugendhat 1967, 212). Es ist daher nicht das Prinzip der Konstitution, sondern nur die letzte jeweilige Stätte aller Geltung und Ausweisung: Alles, was dem Ich rechtmäßig gelten soll, muss sich in den Akten des Ich ausweisen, aber kann nicht aus dem Ich begründet werden (ebd. 199, 212-220). Demgemäß sind die ontologische Ebene der Konstitution und die erkenntnismäßige Ebene der Ausweisung auseinanderzuhalten (ebd. 220-224). Die Konstitution der Anderen für mich deckt sich nicht mit dem Sein der Anderen, die für sich Seiende sind: Insofern sich die Anderen für mich erkenntnismäßig in meinen Akten konstituieren, aber sie sich seinsmäßig nicht in meinen Akten konstituieren, fallen das „für mich“ und das „für sich“, d.h. die erkenntnismäßige und die ontologische Ebene nicht zusammen. Daraus resultiert, dass das „Prinzip des erkenntnismäßigen Primats meines ego cogito universale Gültigkeit nur hat, wenn es nicht zugleich als ontologisches beansprucht wird“ (ebd. 222): Nur insofern ich ihr Sein für sich nicht auf ihr Sein für mich reduziere, kann ich die Anderen als transzendentale Subjekte ansehen, obschon sie nicht „in Originalität und schlichter apodiktischer Evidenz, sondern in einer Evidenz äußerer Erfahrung gegeben sind“ (Hua I, 175), also kein Subjektives in erkenntnismäßigem Sinn bilden.
15Sich-in-der-Subjektivität-konstituieren heißt demnach keineswegs Durch-die-Subjektivität-erzeugt-werden:
In der Subjektivität, zu der wesentlich Ich und „Bewusstseinsstrom“ gehört, konstituiert „sich“ die bleibende Welt für das Ich, aber das Ich […] schafft sie nicht, erzeugt sie nicht im gewöhnlichen Sinn, ebenso wenig wie es sein vergangenes Leben erzeugt, seinen Strom ursprünglicher Sinnlichkeit erzeugt, obschon seine ganze Erlebnisvergangenheit ein Daseiendes für das Ich nur ist durch des Ich Kenntnis nehmendes Erfassen, durch seine tätige Identifikation (Hua XLIII/3, 126f.; vgl. Hua XVII, 257f.).
16Das Ich hat geradezu „Einheit durch die Welt, wenn sie wirkliche Welt ist, wenn sie Titel für ein Reich der Wahrheiten an sich ist“ (Ms. A VI 30/38b). Denn Bedingung der Konstitution meines personalen Ich ist, dass eine einstimmig bestimmbare „Objektwelt für mich beständig erhalten bleibt“ (ebd. 54b), also eine „Natur ,an sich‘“ besteht (ebd. 49a). „Ohne Objekt bin ich nicht Ich“ (ebd. 54a). Wenn nämlich die Dinge und ihre Bestimmungen gesetzlos wechselten, wäre ich kein identisches Subjekt meiner Akte, sondern „ein ,vielfärbiges‘ Selbst“, d.h. ein Ich-Pol, der „keinen personalen habituellen Sinn“ hat (ebd. 52b).
4. Ich und Nicht-Ich
17„Korrelation“ ist ein leeres Wort, wenn nicht angeführt wird, was zum einen und zum anderen Korrelationsglied gehört.
18Mein urtümliches Ich und mein urtümliches Nicht-Ich bilden die Urvoraussetzungen der Konstitution (Hua Mat VIII, 199) und jedes Erlebnis ist „zweiseitig“, da es eine „ichliche“ und eine „ichlose“, „ichfremde“ oder „hyletische“ Seite hat (ebd. 183, 188f.). Husserls Werk ist großenteils darum bemüht, „was Aktivität jeweils voraussetzt und was sie neu leistet“ (Hua XLII, 64) bzw. „was Sache der Vorgegebenheit und was Sache der Ichbeteiligung ist“ (Ms. A VII 13/101b), auseinanderzuhalten. Er scheidet das Ichfremde, nämlich die Habe oder stoffliche Unterlage des Ich (Empfindungsmaterial und Gegenstände) und das Ichliche, nämlich das Sein und Verhalten des Ich (Akte und Zustände) sowie innerhalb des Ichlichen das, was „subjektiv vom Subjekt her“, nämlich aktiv ist, und das, was „subjektiv vom Objekt her“, nämlich passiv ist (Hua IV, 213-215). Während das Innere das Ichliche ist, ist das Äußere das Ichfremde, d.h. die vorgegebene sinnliche Hyle, die das Ich zu Akten motiviert und als Motor der Konstitution fungiert.
19Die Hyle besteht gerade im „Nicht-Ich“, das ein „Ungeistiges“ ist und ohne das kein Ich möglich ist (Hua XIII, 92; Hua XIV, 379, 244, 52). Denn „notwendig gehört zum Ich ein Reich der Gegenständlichkeiten, die nicht selbst Bewusstsein oder gar Ich sind“ (Hua XIV, 51), sondern „das ichfremde Individuelle“ bilden (ebd. 51 Anm. 2): „für mich ist, was ich selbst nicht bin, aber was ich in meinem Sein […] bewusst habe als Nicht-Ich. […] Das Subjektive ist Bewusstsein von Nichtsubjektivem, und die Zeitigung ist auch Zeitigung dieses Nichtsubjektiven“ (Hua Mat VIII, 361). Demgemäß bildet das Nicht-Ich den „nichtsubjektive[n] Kern“ der Konstitution (ebd.) und das transzendentale Ich ist „ein Relatives, eine ichliche Struktur gegenüber dem, was dem Ich vorgegeben ist“ (ebd. 59), weil „es zum Wesen des Ich gehört, auf ein ihm Fremdes (in einem eigenen Sinn ‚Äußeres‘) angewiesen zu sein und reizbar zu sein“ (Ms. E III 2/22a). Das „Ichfremde“ oder „Hyletische“ ist eben das, was „dem puren Ich vorgegeben“ ist (ebd.), es „affiziert“ und dadurch „das Subjekt zu Tätigkeiten motiviert“ (ebd. 22b).
20„Das Ichfremde ist das Inhaltliche“ (Hua Mat VIII, 351) und als „das letzte Ichfremde“ gelten „die ,sinnlichen Daten‘ in ,sinnlichen Feldern‘“ (ebd. 295), d.h. die „ständige Kernschicht der ,Sinnesfelder‘, des Vor-Ichlichen“, welche in aller ichlichen Leistung als „Materie“ vorausgesetzt ist (Hua XXXIX, 432). Als „Reiz zum Aktus“ fungiert gerade die ichfremde „Materie“ (ebd. 433), nämlich „ein nicht-ichliches, ein sachliches Wahrnehmungsfeld“ (Hua XLII, 54). Denn die Intention wird vom Inhalt bedingt, weil sie sich auf eine Abgehobenheit richtet, die eine Affektion ausübt und das Zuwenden des Ich motiviert (Hua XI, 84f.; Hua IX, 131, 209; Hua XXXVII, 332). „Was ,sachlich‘ sozusagen ohne Ichbeteiligung eins ist, also jede assoziative, all-einheitliche Konfiguration, das übt auch eine Affektion“ (Hua Mat VIII, 195).
21Ohne inhaltliche Abhebung, kein Bewusstsein. Denn Bewusstsein im engsten Sinne ist Sich-Beschäftigen-mit (Hua XLII, 38) und nur Abhebung ermöglicht eigentliche Affektion, also Zuwendung und Beschäftigung damit (ebd. 26): Bei einem durchaus homogenen Feld wird das Ich „nie in Sonderheit affiziert, es kann nicht aufmerksam werden, sich mit nichts beschäftigen“ (ebd. 29f.), nicht „auf etwas richten“ (Hua XXXIX, 462). Da Aktivität Affektion voraussetzt (Hua Mat VIII, 183) und Affektion inhaltliche Abhebung voraussetzt (ebd. 351; Hua XI, 149), ist letztere „die Voraussetzung (als Anruf, Anspruch) für den Aktus des Ich als ,Antwort‘ (Bewusstsein im prägnanten Sinn)“ (Hua Mat VIII, 191). Insofern also Akte durch das „ichfremd Affizierende“ motiviert sind (Hua IV, 336; Hua XI, 342), mithin eine „Antwort“ des Ich auf eine Affektion darstellen9 und das Zustandekommen von Affektionen auf die Homogenität und den Kontrast zwischen sinnlichen Inhalten angewiesen ist (Hua XI, 151, 164, 175, 179), sind Ähnlichkeit und Kontrast „Bedingungen der Möglichkeit der Intention und Affektion“ (ebd. 285). Abhebungen sind Vorbedingung für affizierende Inhalte und somit für Akte.
22Der Ursprung der Intention liegt in den sachlichen Zusammenhängen zwischen sinnlichen Inhalten, da intentionale Akte durch die Gliederungen des Sinnesfelds motiviert werden, die auf die Eigenart und die raumzeitliche Anordnung der sinnlichen Gehalte angewiesen sind.10 Die Antwort auf die Frage: „is intentionality determined by factors internal to the mind or by factors external to the mind?“ (Zahavi 2017, 118) lautet demnach: Die intentio entspringt dem ichfremd Vorgegebenen, das insofern eine Affektion ausübt, als es sachlich eins ist, weshalb Intentionalität durch Faktoren bestimmt wird, die außer dem Geist liegen.
5. Möglichkeitsbedingungen der Weltkonstitution
23Das Reale ist das Korrelat der einstimmigen Erfahrung, die erst durch weitere Erfahrung sich anders erweisen kann, weil „Erfahrung nur durch Erfahrung bewährbar und aufhebbar ist“ (Hua XXXIX, 231; vgl. Hua XVII, 170). Insofern Reales und Nicht-Reales nicht durch Vergleich zwischen Vorstellungen in mir und Dingen außer mir, sondern nur durch eine Beziehung innerhalb der Erfahrung unterscheidbar sind, betrifft die Frage nach der Wirklichkeit eines Erscheinenden nicht ein hinter den Erscheinungen Liegendes, sondern den weiteren Lauf der Erscheinungen und lautet: Wird die weitere Erfahrung die bisherige bestätigen oder wird der einstimmige Erfahrungslauf durchbrochen werden?11 Während die Wirklichkeit besagt, dass „der Erfahrungszusammenhang einstimmig fortläuft ins Unendliche“ (Hua III, 598), besagt der Schein, dass der Lauf der einstimmigen Erfahrung ein anderer ist, als er durch die bisherige Erfahrung vorgezeichnet war (Hua XV, 49). Die gesamte Einstimmigkeit wird dadurch erhalten, dass jede Hemmung des Fortganges der einstimmigen Erfahrung „sich in eine allgemeinere Erfahrungsregel wieder stimmend einfügt“ (Hua XXXIX, 496).
24Eine wirkliche Welt ist gerade Korrelat einer einstimmigen bzw. einstimmig in infinitum fortlaufenden Erfahrung (Hua VIII, 457) und die Möglichkeit der Nichtexistenz der Welt bedeutet die „Idee einer ins Unendliche fortgehenden Disharmonie“ (ebd. 392).12 Nun, eine wirkliche Welt konstituiert sich zwar im Bewusstsein, aber entstammt ihm nicht, weil die Einstimmigkeit der Erfahrung von dem faktischen Inhalt und Verlauf der Erscheinungen abhängt, die das Bewusstsein keineswegs bestimmen kann. Wären Inhalt und Verlauf der Erscheinungen verschieden, wäre die Welt verschieden oder es würde sich keine Welt konstituieren. Daraus stammt die Hypothese einer Weltvernichtung oder Auflösung der Welt in ein „Gewühl von Erscheinungen“ durch Entfallen des regelmäßigen Stils der Erfahrung, welcher die Antizipation des Kommenden und die Gegenstandsapperzeptionen ermöglicht (ebd. 48f., 67f., 406, 453; Hua XVI, 288f.). Wenn nämlich der faktische Bewusstseinslauf „die Identität durchzuhalten nie gestattet“, kann sich in seinem Zusammenhang keine „Transzendenz“ oder „an sich seiende Realität“ konstituieren, sondern bloß „eine ungefähre Dingeinheit“ (Ms. B IV 1/76a-b) und somit „eine ,ungefähre‘ Welt, die freilich streng nicht durchzuhalten ist“ (Ms. D 13 II/174b). Es geht dabei um „vorübergehende Haltepunkte für die Anschauungen“, die unfähig sind, „konservative ,Realitäten‘, Dauereinheiten, die ,an sich existieren, ob sie wahrgenommen sind oder nicht‘, zu konstituieren“ (Hua III, 103f.).
25Das Subjekt kann nur dann setzende Akte vollziehen, wenn ihm bestimmte Erscheinungsreihen gegeben sind. Was für Erscheinungsreihen dem Subjekt faktisch gegeben sind, hängt jedoch nicht vom Subjekt ab. Die Annahme der Weltvernichtung beruht eben darauf, dass die Weltkonstitution aus objektiven, d.h. subjektunabhängigen Gründen unmöglich sein könnte, nämlich dass durch ein Wimmeln von „nicht nur für uns, sondern an sich unausgleichbaren Widerstreiten“ im Erfahren die Dingsetzungen nicht einstimmig durchgehalten werden könnten, weshalb es „keine Welt mehr“ gäbe (ebd. 103). Bestünden keine sachlichen Zusammenhänge zwischen den Erscheinungsinhalten, könnten im Bewusstsein kein objektiver Sinn und keine Erkenntnisbildung entspringen.
Könnte nicht im Bewusstsein alles an Elementarten […] auftreten, was dem Begriff Vernunft Sinn gibt […], und doch der mannigfaltige Inhalt des Bewusstseins sich nicht streng rationalisieren lassen oder überhaupt nicht, also keine Natur und Naturwissenschaft? Was nützen die idealen Möglichkeiten, die zum Urteil, zur Evidenz gehören, und die Normen, die sie gewähren, wenn ein „sinnloses Gewühl“ da ist, das in sich keine Natur zu erkennen gestattet? (Ms. D 13 II/200b; vgl. Ms. B IV 1/97a-98a).
26Die Möglichkeit einer Weltvernichtung besagt demgemäß die Möglichkeit, dass, obwohl das Bewusstsein eine Welt zu konstituieren vermag, sein Inhalt keine Weltkonstitution gestattet. Sind Inhalt und Lauf der Erscheinungen so beschaffen, dass sie ein sinnloses Gewühl ergeben, kann nämlich das Bewusstsein, wie immer es beschaffen ist, keine Welt konstituieren. Die Frage nach der Weltkonstitution lautet darum: Wie muss die ichfremde Hyle beschaffen sein, um die Weltkonstitution zu gestatten?
27Die Konstitution einer wirklichen Welt hat nicht nur subjektive, sondern auch objektive Möglichkeitsbedingungen, insofern sie nicht nur voraussetzt, dass das Subjekt das Vermögen hat, Apperzeptionsakte zu vollziehen, sondern auch, dass der vorgegebene Stoff deren Vollzug zulässt. Deshalb sind in der Naturkonstitution die Seite der erkennenden Wesen und die der Natur selbst auseinanderzuhalten (Hua XXX, 309) und neben einer „Ichverrücktheit“ ist eine „Weltverrücktheit“ anzusetzen (Hua XXXIX, 479). Natur ist zwar ein „Bewusstseinskorrelat“, denn „sie ist nur, als sich in geregelten Bewusstseinszusammenhängen konstituierend“ (Hua III, 109). Aber sie ist ein Bewusstseinskorrelat, dessen Konstitution nicht nur vom Bewusstsein abhängt. Die in §§ 32 und 65-66 der Prolegomena zur reinen Logik in Bezug auf die logische Erkenntnis formulierte Unterscheidung zwischen noetischen, nämlich in den Akten gegründeten und objektiven, nämlich im Inhalt gegründeten Bedingungen der Möglichkeit ist demnach selbst auf die Naturkonstitution anzuwenden.
28Zur These der Absolutheit des Bewusstseins und der Relativität der Welt kommt Husserl durch Variationsmethode. Denn die Möglichkeit eines Bewusstseins ohne Welt wird durch Abwandlung vom Inhalt des Bewusstseins gewonnen, weil das Erscheinungsniveau „vielfältig gewandelt gedacht werden könnte, ohne dass ich aufhörte zu sein“, und darunter so, dass keine „Natur“ gegeben ist (Hua XIV, 246). Dass „Bewusstsein […] existieren kann, ohne dass irgendeine transzendente Realität ist“, besagt daher „nur: […] Wir können die immanente Zeit willkürlich besetzen, so dass keine Natur konstituiert wäre“ (Hua XXXVI, 79). Insofern die zeitliche Synthesis ohne apperzeptive Synthesis bestehen kann, kann das Bewusstsein als einheitlicher Erlebnisstrom bestehen, auch wenn die die Zeitform erfüllenden Inhalte sachlich zusammenhangslos sind und ihr Lauf keine Ding- und Weltkonstitution ermöglicht. Die Konstitution einer seienden Welt ist demgemäß auf die inhaltliche Besetzung der Zeitform angewiesen, die das Bewusstsein keineswegs bestimmen kann. „Die Hyle kommt zufällig, sie steht nur unter den allgemeinsten Wesensgesetzen kontinuierlicher Zeiterfüllung“ (Hua XIV, 14) und bildet den „irrationalen Gehalt des Bewusstseins“ (ebd. 291). Denn „Ursinnlichkeit, Empfindung etc. erwächst nicht aus immanenten Gründen, aus seelischen Tendenzen, sie ist einfach da, tritt auf“ (Hua IV, 335). Dass Bewusstsein ohne Welt bestehen kann, heißt also bloß, dass inhaltsunabhängige formal-zeitliche Synthesen ohne inhaltsabhängige sachlich-assoziative Synthesen bestehen können. Es gäbe dann eine bewusste Erscheinungsfolge, aber es könnte sich keine „einstimmig setzbare, also seiende Welt“ (Hua III, 497) konstituieren.
29Das Bewusstsein ist demnach keine hinreichende Bedingung der Weltkonstitution, die auf „das eigentlich empirisch Zufällige“ oder „materiale Faktum“ angewiesen ist (Hua XIV, 306), mithin an „die Urfakta der Hyle“, und zwar an das „Faktum“ gebunden ist, „dass das Urmaterial gerade so verläuft in einer Einheitsform“ (Hua XV, 385). „Dass diese Wahrnehmung da mit diesem Inhalt ist und dass sie so und so in andere Wahrnehmungen übergeht, das ist das brutum factum“ (Ms. D 13 II/206b). Da also der Inhalt des Seins und der Seinsformen durch den irrationalen Stoff bestimmt wird (Hua XXVIII, 226; Hua Mat IX, 196f.), ist die Welt „ein irrationales Faktum“ (Hua XVI, 289).
6. Sinnliche Relativität
30Insofern sinnliche Inhalte in sinnlichen Einheitsformen erscheinen (Hua VII, 222 Anm. 2) und „in sich selbst einen inneren synthetischen Aufbau“ haben (Hua XI, 140), kann es keine vereinzelten Inhalte geben (ebd. 157f., 175). Demnach erscheint jeder Inhalt anders je nach dem Zusammenhang. Eigentlich ist daher die sinnliche Relativität eine Relativität nicht auf das Subjekt, sondern auf den sinnlichen Zusammenhang, der durch die Beschaffenheit und raumzeitliche Anordnung der vorgegebenen Inhalte bedingt wird.
31Sinnliche Gegenstände entspringen inhaltlichen Synthesen: Was für Gegenstände gegeben sind, hängt von Verschmelzungen ab, die in den Ähnlichkeits- und Kontrastverhältnissen zwischen den Inhalten gründen, also nach sachhaltigen Wesensgesetzen (Ideenrelationen) statthaben und „unhistorisch“ sind (Hua Mat VIII, 338). Die sinnliche Ähnlichkeit und der sinnliche Kontrast bilden gerade insofern „die Resonanz, die jedes einmal Konstituierte begründet“ (Hua XI, 406), als sie bestimmen, was im Wahrnehmungsfeld zur Abhebung kommt.13 Die sinnliche Konstitution ist demnach auf die Eigenart der jeweiligen Gehalte bzw. auf die durch diese bedingten Gliederungen angewiesen. Je nach dem sinnlichen Zusammenhang konstituieren sich also gewisse Gegenstände und nicht andere.
32Die „Relativität der Erfahrung“ liegt darin, dass jedes als gewiss Gegebene im Fortgang der Erfahrung sich als Schein erweisen kann, weshalb kein „Seiendes, als was es an sich ist, sondern ein in Gewissheit Vermeintes“ gegeben ist (Hua VI, 270). Die Welt ist nur „in relativer Wahrheit“ erkennbar, weil sie in einer „Antizipation“ gegeben ist, die „auf bestätigende neue Erfahrung angelegt ist“: Die Wahrheit der Welt ist immer „vorbehaltlich“ und kann in Form einer neu in sich einstimmig erfahrenen Welt überwunden werden (Hua VIII, 46f.). Da also jede Korrektur die Möglichkeit weiterer Korrekturen prinzipiell offenlässt, ist die endgültig wahre Welt, nämlich das Korrelat einer endgültigen Einstimmigkeit ist ein unerreichbares Ideal (ebd. 52). Denn jede durch Wandel wechselseitiger Unstimmigkeiten hergestellte Einstimmigkeit kann in eine höhere korrigierende Einstimmigkeit aufgehoben werden. „Die Welt an sich, die endgültig wirkliche, ist nie gegeben“, weil die Erfahrungswelt immerzu und notwendig „in Schwebe zwischen relativer Wahrheit und relativer Unwahrheit, zwischen Sein und Schein“ ist (Hua XV, 614).
33Die „wesensmäßige Relativität“, die den Seinssinn der Welt und aller Realitäten auszeichnet, hängt vom „Wesensstil der Erfahrung“ ab (Hua XVII, 288). Solche Relativität übersteigen und das Sein der Welt begründen zu wollen, führt darum zu einer „Mystik“ (Hua XXIX, 267).14 Andersbestimmbarkeit und Aufhebbarkeit sind ontologische Eigenschaften des Realen, das insofern eine endgültige Bewährung prinzipiell ausschließt, als es sinnlich ist. Die Unmöglichkeit, eine absolute Gewissheit über die realen Gegenstände zu gewinnen, gründet also nicht im Subjekt, sondern im Wesen solcher Gegenstände.
Von einem empirisch Wahren (einem notwendig sich durch Antizipation mitkonstituierenden) verlangen, dass es ein absolut Wahres sein und als das <sich> ausweisen soll […], ist vielleicht das verhängnisvollste Vorurteil in der Geschichte der Philosophie. […] Ein „Ding an sich“ voraussetzen als ein nur mir und zufällig (vermöge der „Schwäche meiner Erkenntniskraft“) Unerreichbares, als etwas, das prinzipiell, etwa von einem Gotte, in einer vollkommenen, allseitigen, einer adäquaten Wahrnehmung wahrgenommen sein könnte, ist ein Nonsens (Ms. B I 13/63b-64a).
34Dinge haben „keine Mysterien“, denn obwohl sie immer neue Beschaffenheiten bieten, sind sie „etwas Gegebenes, etwas Wahrnehmbares, als das, was sie sind, Fassbares und nichts Verstecktes“, weil „so geartetes Sein nur so zur Gegebenheit gebracht werden kann“ und „es keinen Sinn hätte, anderes von ihm zu fordern“ (Hua XIII, 10). Weil Dinge nicht für uns, sondern an sich sinnlich sind, ist ihr wahres Sein kein Jenseits der möglichen Erfahrung oder Zweites neben dem gegebenen Sein (Hua XXXV, 276f.; Hua XXXVI, 67f.). „Gegenstände sind als sie selbst in Erfahrung gegeben, Erfahrung ist Erfassung des Selbst“ (Hua XXXIV, 308), weshalb „das in der Wahrnehmung wahrgenommene Ding das Ding selbst ist, in seinem selbsteigenen Dasein“ (Hua XVII, 287). Äußere Erfahrung ist nämlich „der Modus der Selbsthabe von Naturobjekten“ und ihre prinzipielle Unvollkommenheit besteht in ihrem Angewiesensein auf weitere Erfahrung (ebd. 170).
35Wo Husserl die sinnliche Relativität auf das Subjekt zurückführt, übernimmt er den von ihm abgelehnten naturwissenschaftlichen Ansatz, wonach die sinnlichen Bestimmungen subjektiv sind.15 Anders als er behauptet, gehören die Unterschiede des Hier und Dort, des Rechts und Links, der Gestalt und Farbenperspektive nicht zum Bewusstsein und sind daher nicht „subjektive Weisen, wie Objektives dem Erfahrenden […] sich darbietet“ (Hua VII, 50). Sie gehören vielmehr zum realen Gegenstand und sind daher objektive Weisen, wie Objektives dem Erfahrenden sich darbietet. Insofern sie an sich räumlich sind, können Raumdinge nur perspektivisch und in einer räumlichen Orientierung gegeben sein. „Das ist eine prinzipielle Notwendigkeit“ (Hua XXV, 91). Trotz der subjektiven Relativität der Bestimmungen „rechts“, „links“, „hier“ und „dort“ beruht das von ihnen Ausgedrückte nicht auf dem Subjekt, sondern auf dem Wesen des Raums: Was jeweils rechts oder links, hier oder dort liegt, ist subjektiv-relativ; dass jeweils eine Rechte und eine Linke, ein Hier und ein Dort besteht, ist jedoch absolut-objektiv. Der Raum bildet nämlich eine sachliche „Formbeschaffenheit aller Dinge“: „Er gehört zu ihnen und sie gehören zu ihm (als in ihm als der Form seiend), abgesehen von allen subjektiven Bedingungen der Anschauung“, denn es ist „keine subjektive Bedingung der Anschauung, dass Dinge nur gegeben sein können durch Anschauung“ (Ms. B IV 1/33b; vgl. Hua VII, 357f.).
36Die Gegebenheitsweisen gründen nicht im Subjekt, sondern in der Natur der Inhalte: Verschiedenen Wesensgehalten entsprechen verschiedene Gegebenheitsweisen, die für alle möglichen Subjekte verbindlich sind. Husserl spricht dahingehend vom „ontischen Wie der Gegebenheit“ (Hua XIV, 383) und bezeichnet die „Konstitution eines Gegenstandes als Sinnes“ als „eine Bewusstseinsleistung, die für jede Grundart von Gegenständen eine prinzipiell eigenartige ist“ (Hua XI, 19). Die Konstitution erfordert jeweils „eine prinzipiell verschiedene intentionale Struktur“ (ebd.), da sie der „Besonderheit“ des jeweiligen Seienden zugehörig ist (Hua XVII, 251). Die Gegebenheit der Gegenstände setzt bestimmte Bewusstseinsleitungen voraus, die zwar als hinreichende Bedingungen ihrer Konstitution gelten (Smith 2003, 33-43), aber je nach der Gegenstandsart verschieden sind. Was für Aktart notwendig ist, um den Gegenstand einer bestimmten Art zur Gegebenheit zu bringen, gründet also nicht im Subjekt, sondern in der Gegenstandsart (Tugendhat 1967, 173-177, 216-220).
7. Wirklichkeit und Erfahrbarkeit
37Zum Sinn des Realen gehört, dass es nicht nur denkbar, sondern in einer möglichen Erfahrung gebbar ist, die aus faktischer Erfahrung bestimmbar ist und mit dieser zusammenhängt. Die Setzung der Wirklichkeit von etwas ist darum mit der Setzung der Möglichkeit einer Erfahrung von ihm äquivalent, die einsichtig mit unserer Art von Erfahrung verbunden sein muss, weil die Grenzen der Möglichkeit der Erfahrung die Grenzen der sinnhaften Fassung sind und das durchaus jenseits unserer Fassungsvermögen Liegende auch nicht formulierbar ist und keinen Sinn hat.16 „Es ist nicht möglich, etwas zu glauben, was man sich nicht irgendwie verifiziert denken kann“ (Wittgenstein 1970, 89).
38Husserl teilt den Verifikationismus, indem er meint, dass alles Existierende prinzipiell erfahrbar ist.17 Denn „Sein ist Erkennbarkeit“ (Hua XV, 370) und beim Reden von durchaus unvergleichbaren und zusammenhangslosen Erkenntnisweisen fehlt, „was die Einheit des Begriffs der Erkenntnis aufrechterhält“ (Ms. K II 4/109b). Was für ein Ich erkennbar ist, muss daher „prinzipiell für jedes erkennbar sein“ und das Bestehen von Dingen und Dingwelten, die in keiner menschlichen Erfahrung bestimmt ausweisbar sind, „hat bloß faktische Gründe in den faktischen Grenzen dieser Erfahrung“ (Hua III, 102f.). Die Existenz impliziert die Möglichkeit einer „Seinsausweisung“ (Hua XXXVI, 138) und metaphysische Entitäten sind „leere Substruktionen eines […] bodenlosen Denkens“, die sich von den Gespenstern nur dadurch unterscheiden, dass sie „durch Erfahrung nicht gegeben, also auch durch sie nicht widerlegt werden können“ (Hua XXXII, 216). „An sich“ oder „transzendent“ ist nicht das jenseits der Erfahrung Liegende, sondern das, was in getrennten Wahrnehmungen als dasselbe wahrgenommen werden kann und dessen esse sich nicht im percipi, d.h. in der augenblicklichen Gegebenheit erschöpft (Ms. B IV 1/72b, 89a, 91a, 101a). Das Ding „ist an sich, unabhängig davon, ob ich davon weiß oder nicht weiß“ (Hua XIV, 256), es ist jedoch „wahrnehmbar oder wahrnehmbar gewesen“ (ebd. 441). Insofern sie also existieren, auch wenn niemand sie erfährt, sind reale Gegenstände transzendent und an sich, aber immerhin erfahrbar (Hua XXXVI, 191, 152), mithin von der faktischen, aber nicht von der möglichen Erscheinung unabhängig (Hua II, 12). Denn jede Gegenständlichkeit „ist, was sie ist, ob erkannt wird oder nicht“, aber ist „prinzipiell erkennbar, auch wenn sie faktisch nie erkannt worden ist und erkennbar sein wird“ (ebd. 25), und bei realen Gegenständen besagt Erkennbarkeit Erfahrbarkeit.
39Durch die Gleichstellung von Wirklichkeit und Erfahrbarkeit wird also nicht das Sein an sich der Dinge, sondern dessen Unerfahrbarkeit geleugnet (Hua XXXVI, 32). Gerade „als Sein-an-sich“ hat das Ding „seinen Gehalt möglicher Erfahrungen“ (Hua XXXII, 63): Dass es „ein An-sich“ ist und existiert, ohne wahrgenommen zu sein, „setzt voraus eine von der Gegenwart her auslaufende Motivation, dass es hätte wahrgenommen werden können oder könnte wahrgenommen werden, darin liegt, von meiner Gegenwart aus kann ich leiblich hingehen etc.“ (Hua XIV, 453). Das An-sich-Sein des Dings gegenüber aller Wahrnehmung von ihm besteht eben darin, dass es „von anderen Wahrnehmungen anderer Dinge aus zugänglich ist“ (Hua IX, 186).
40Jene Gleichstellung impliziert demnach keinen Idealismus,18 sie bildet vielmehr die Bedingung des Realismus, denn wenn man ablehnt, das Wirkliche als das Sinnliche oder Gegebene, d.h. als Erfahrungskorrelat oder Sinnending anzusehen, ist es unvermeidbar, es idealistisch als das Intelligible oder Gedachte, d.h. als Denkkorrelat oder Gedankending anzusehen. Der realistische Ansatz lautet also: „Wahrnehmung ist selbst nichts zu Begründendes, sie ist dafür selbst Grund gebend“ (Hua XXIV, 8) und stellt „das letzte Maß der Wirklichkeit“ dar (Hua XL, 314). Denn, „[n]ur Wahrnehmung hebt Wahrnehmung aus dem Sattel“ (Hua XXXVI, 40).
41Täuschung setzt „einen Boden positiver, unbetroffener, unmodalisierter Geltungen“ voraus (Hua XXXIV, 416) und ist parasitär gegenüber Wahrnehmung. Denn eine Wahrnehmung kann sich als Täuschung erweisen, aber erst durch eine andere mit ihr widerstreitende Wahrnehmung, die zeigt, was an Stelle der Täuschung wirklich ist (Hua XVII, 287). „Konsequente Halluzination ist keine Halluzination mehr. Wenn […] meine Wahrnehmungen unbestritten zusammenhängen würden, so hätte ich eine […] wirkliche Wahrnehmungswelt“ (Ms. D 13 II/204b). Die Behauptung, dass alles, was ich wahrnehme, Einbildung ist, ist widersinnig, „denn ,alles‘, das umfasst auch den gemeinsamen Boden, ohne den es keine Einrede, keinen Widerstreit gibt. Also ein Urboden ist die Wahrnehmung, und wenn auch […] Wahrnehmung sich in Scheinwahrnehmung […] wandeln kann, so kann es nur die einzelne“ (ebd.). Insofern also jede einzelne sinnliche Erscheinung erst durch andere außer Frage stehende sinnliche Erscheinungen in Frage gestellt werden kann, kann man keineswegs das sinnlich Erscheinende als solches, d.h. alle sinnlichen Erscheinungen in eins in Frage stellen, weil dann der Geltungsboden entfällt, der die Infragestellung ermöglicht. „Dass alles Sehen eine Täuschung ist, hebt den Sinn der Rede von Täuschung auf“ (Hua XXXV, 23).19
42Husserls sogenannter Beweis für den transzendentalen Idealismus zeigt, dass alles Reale in der einen realen Raumzeit und somit innerhalb des vorgezeichneten raumzeitlichen Horizonts ist (Hua XXXVI, 115f.). Ihm liegt eine in der Literatur übersehene ontologische Annahme zugrunde, die einen Kerngedanken der Phänomenologie bildet, insofern sich diese gegen die „Degradation der Sinnlichkeit“ (Hua Mat III, 170) wendet: Das Reale ist das Sinnliche, d.h. das Korrelat einer schlichten Wahrnehmung, weshalb die Idee von übersinnlichen Dingen an sich ein Nonsens ist (ebd. 168-172). Gerade weil er die wirkliche Welt als sinnlich ansieht, behauptet Husserl, dass ihre Konstitution ein leibliches Subjekt voraussetzt (Hua XXXVI, 132-145). Und gerade weil er die Lebenswelt für die „Welt der Sinnlichkeit“ (Hua VI, 360) oder „körperliche Natur“ (ebd. 461) hält, bezeichnet er sie als die einzig wirkliche und wahre Welt (ebd. 49; Hua XXIX, 140).
43„Eine reale Welt ist, was sie ist, nur als Umgebung“ (Hua XXXVI, 114), weshalb alles in ihr Enthaltene entweder direkt Erfahrenes ist oder zum bestimmbaren Unbestimmtheitshorizont des aktuell Erfahrenen gehört (ebd. 121): Ein reales, aber unerfahrenes oder gar faktisch unerfahrbares Ding ist prinzipiell im Bereich meiner möglichen Erfahrung, insofern jedes aktuelle Wahrnehmungsfeld Glied einer Kontinuität von Wahrnehmungsfeldern ist, die schließlich zu solchen führen, in denen das Ding aktuell Erfahrenes wäre. Obwohl ich also aus faktischen Gründen das Ding nicht erfahren kann, besteht eine reale (d.h. durch das aktuell Erfahrene motivierte) Möglichkeit, es zu erfahren, nämlich „ein Zusammenhang möglicher Erfahrung“, der mir zulässt, das Sein des Dings aus meiner aktuellen Erfahrung zu rechtfertigen (ebd. 115). Da jede Existenzsetzung ihre Rechtskraft aus dem Bestand aktueller Erfahrung zieht und zwischen Nichterfahrenem und Erfahrenem „notwendige Zusammenhänge“ bestehen (Hua XLII, 150), ist die leere oder ideale (d.h. nicht durch die aktuelle Erfahrung vorgezeichnete) Möglichkeit eine bloße „Fiktion“, nämlich „etwas Grundloses, ebenso wie die Existenz von Satyrn oder Nymphen“ (Hua XXXVI, 119).20
44Beim Reden von realen Wahrnehmungsmöglichkeiten geht es „freilich nicht [um] bloß für uns reale Möglichkeiten, als ob, wenn wir herausgestrichen würden aus der Welt, die Dinge auch dahinfielen“ (Hua XLII, 144). Insofern das Ding Korrelat nicht aktueller, sondern möglicher Erfahrungen ist, besagt dessen Existenz die Existenz realer Erfahrungsmöglichkeiten, die erst von einem aktuellen Bewusstsein ausgewiesen werden können, aber keineswegs voraussetzen, dass Bewusstsein immer existierte. Denn die Erstreckung der Ausweisung des gegenwärtigen Bewusstseins auf Vergangenheit und Zukunft impliziert nicht das Zurückreichen und Fortbestehen der Existenz des Bewusstseins in Vergangenheit und Zukunft. Insofern sie die Umgebung eines möglichen Subjekts ist, kann eine wirkliche Welt ohne wirkliche Erfahrungssubjekte existieren, obwohl ihre Existenz nur von einem wirklichen Subjekt ausgewiesen werden kann. Es sind nicht aktuelle Subjekte für die ganze unendliche Zeit des Weltdaseins anzunehmen, denn wenn das Bewusstsein entsteht, ist eine Welt rückwärts auch für die Zeit vorgezeichnet, wo noch kein Bewusstsein bestand (Hua XXXVI, 19, 141). Eine Welt ohne Bewusstsein ist also möglich, obwohl sie erst in einem aktuellen Bewusstsein ausweisbar ist, das epistemisch unhintergehbar ist.21
45Die Subjektabhängigkeit des Realen betrifft demzufolge bloß die Ausweisung einer subjektunabhängigen Existenz: Das Reale ist nicht hinsichtlich der Existenz, sondern hinsichtlich ihrer Ausweisung auf das Subjekt angewiesen, weil es unabhängig vom Subjekt existiert, aber seine subjektunabhängige Existenz vom Subjekt ausgewiesen wird. Im sinnvollen Reden von der Ausweisung der Existenz liegt nämlich, dass die Existenz und ihre Ausweisung zweierlei sind und dass jene dieser vorangeht.
46Das Problem der nicht wahrgenommenen gewesenen Natur, mithin der Vorgänge vor dem Auftreten psychischer Organismen im Weltall ist demgemäß dasselbe wie das der nicht wahrgenommenen gegenwärtigen Natur (Hua XLII, 144, 150). Denn das Nichtwahrgenommene liegt ohnehin in der Umgebung des Ich, die nicht nur als räumlich, sondern auch als zeitlich zu verstehen ist, weshalb zu ihr auch jene Vorgänge gehören, insofern von den aktuellen Erfahrungen aus Ketten motivierter Erfahrungsmöglichkeiten in die Vergangenheit laufen (Melle 2010, 103). Dass Dinge bestehen oder bestanden, die niemand wahrgenommen hat, besagt, dass unrealisierte reale Möglichkeiten ihrer Erfahrung bestehen oder bestanden. Man kann demzufolge sinnhaft von Dingen sprechen, die niemand wahrgenommen hatte, aber mancher hätte wahrnehmen können, ohne die Unendlichkeit oder Ewigkeit des Bewusstseins anzunehmen (Hua XLII, 146).
47Trotzdem behauptet Husserl, man müsse die Ewigkeit des Bewusstseins annehmen, um sinnhaft von dem sprechen zu können, was vor dem Auftreten psychischer Wesen besteht (ebd. 140, 145-153; Hua XIII, 15-17). Nun, da die transzendentale Subjektivität bloß die empirische Subjektivität selbst ist, sofern diese sich bewusst wird, für sich selbst letzte Stätte aller Geltung und Ausweisung zu sein, also die Transzendentalität eine Bestimmung des jeweiligen weltlichen Subjekts ist,22 kommt dem transzendentalen Subjekt kein ontologisches Vorausgehen zu. Abwegig ist darum die Rede von einer Verweltlichung oder Selbstentfremdung der transzendentalen Subjektivität in die empirische oder mundane (Hua XXXIV, 233, 245f., 289, 458f.), von einem ewigen und unsterblichen (Hua XLII, 151, 154), also „absolute[n] Bewusstsein, das nicht an Leib gebundene Seele ist“ (ebd. 143), sowie von dem Tod als einer „Fortdauer außerhalb der Welt“ (Hua XIII, 399).
48Die Lehre der Unsterblichkeit der Monaden – die Husserl ständig vertritt, aber an einer Stelle von 1933 zurückweist (Hua Mat VIII, 369) – ist eine metaphysische, weil sie über das deskriptiv Aufweisbare hinausgeht (Sowa 2013, LXVIII). Meine Undurchstreichbarkeit besagt keineswegs, dass ich notwendig bin, weil meine Essenz meine Existenz impliziert – wie Husserl aufgrund einer Art ontologischen Unsterblichkeitsbeweises behauptet (Hua XXIX, 89; Hua XIV, 151-160) –, sondern dass die Ausweisung meiner Nicht-Existenz meine Existenz voraussetzt: Wenn ich mir meine Nicht-Existenz vorstelle, bin ich nicht bloß Ausgangspunkt solcher Abstraktion, sondern Ausweisungsort ihrer Geltung. Gerade nur als Ausweisungsort ist Subjektivität „bei allem objektiv Festgestellten schon seinsmäßig vorausgesetzt“ (Hua VIII, 448).
8. Reduktion
49Die in die Logischen Untersuchungen aufgenommene metaphysische Frage nach Existenz und Natur der Außenwelt ist mit der aus der Verweigerung der Schlusstheorie der Wahrnehmung resultierenden Behauptung unverträglich, dass „der intentionale Gegenstand der Vorstellung derselbe ist wie ihr wirklicher und gegebenenfalls ihr äußerer Gegenstand“ und „es widersinnig ist, zwischen beiden zu unterscheiden“ (Hua XIX, 439). Bestünde eine nicht-sinnliche Wirklichkeit, wären nämlich die intentionalen Gegenstände Bilder oder Zeichen der wirklichen Gegenstände und Wahrnehmung ein Bild- oder Zeichenbewusstsein. Als reale Gegenstände gelten demnach die sinnlichen Gegenstände (ebd. 679, 703). Wie Philipse (1995, 278-280) bemerkt, wird also die Reduktion des Seins auf das Phänomen schon in jenem Werk vollzogen und die spätere Ausschließung der Außenwelt im metaphysischen Sinne ergibt keinen neuen Ansatz, sondern hebt bloß einen Widerspruch des alten Ansatzes auf, in dem ein Rest von Naturalismus lag. Aber anders als Philipse meint, besagt Reduktion auf das Phänomen nicht eo ipso Reduktion auf das Bewusstsein.
50Die Erscheinungen sind „der tragende Urgrund des Baus (der Konstitution) der Objektivität“ (Hua XLII, 149). Die Zweideutigkeit der Phänomenologie hängt mit der Zweideutigkeit des Worts „Erscheinung“ bzw. „Phänomen“ zusammen, das im noetischen oder im ontischen Sinn verstanden werden kann und sowohl das Erscheinen (die immanenten Erlebnisse) als auch das Erscheinende (die transzendenten Gegenstände) bezeichnen kann.23 Darauf beruht die Zweideutigkeit der Reduktion, die in einer „Phänomenierung“ (Hua XXIV, 211) oder Reduktion des Seins auf das Phänomen besteht.
51Wird „Phänomen“ als Erscheinendes verstanden, werden Gegenstände auf das reduziert, was sie an sich sind, nämlich als sinnlich gegebene Gegenstände betrachtet, indem die selbsterdachten und dahinter angesetzten erklärenden Entitäten ausgeschaltet werden. In dieser Fassung stellt die Reduktion bloß das Mittel dar, um das Ich als Subjekt der Welt und den Sinn der Welt als Spielraum möglicher Erfahrung herauszustellen (Hua VI, 409f.). Sie gibt also nicht die Welt preis, sondern enthüllt ihren Sinn (Hua VIII, 457), indem sie ermöglicht, „die Erfahrungswelt als Welt der möglichen Erfahrung“ zu betrachten (ebd. 436) und „den Wesenszusammenhang zwischen der Idee einer seienden Welt und dem System möglicher Erfahrungen“ zu fassen (ebd. 400). In meiner reduzierten Sphäre finde ich als Korrelat meiner einstimmigen Erfahrung eine einheitliche Natur, die für mich wahrhaft seiend und unbezweifelbar ist (ebd. 436f.), weshalb nach dem Reduktionsvollzug die Welt „mir als seiend weitergilt, wie sie gegolten hat“ (Hua XXXIV, 247). Durch die Reduktion wird daher nicht die Existenz der Welt geleugnet oder bezweifelt, sondern der Sinn der Welt aufgeklärt: Dass die Welt existiert, ist ganz zweifellos (Hua V, 152f.; Hua VI, 190f.).24 Es geht also nicht um eine Reduktion der Welt auf das Bewusstsein, sondern um eine Herausstellung der Möglichkeitsbedingungen einer objektiven Welt.
52Wird „Phänomen“ als Erscheinen verstanden, werden Gegenstände auf das Bewusstsein reduziert, indem eine „Ausschaltung […] von Transzendenz […] im Sinn von Erscheinendem“ (Hua XIII, 171) und somit eine Reduktion auf den Bewusstseinsstrom vollzogen wird, deren Thema nicht die Welt, sondern bloß die darauf sich beziehenden subjektiven Akte und Erscheinungsweisen sind (Hua VIII, 432, 434). In dieser Fassung ist die phänomenologische Reduktion eine sensualistische Reduktion des Dings auf immanente Empfindungsinhalte und ihr „erste[r] Keim“ liegt in Hume, in Mills „Lehre von den permanenten Empfindungsmöglichkeiten, auf welche das Dasein des äußeren Dinges reduziert werden soll“, sowie im „Empfindungsmonismus eines Mach, der ebenfalls dem Ding zusammenhängende Empfindungsgruppen substituiert“ (Hua XIII, 180). Es geht also um diejenige psychologische Reduktion auf den reellen Bestand, die schon in den Logischen Untersuchungen lag25 und zur Auflösung der Welt ins Bewusstsein führt.
9. Idealismus
53Husserl übernimmt Brentanos These, dass nur das Psychische eigentlich gegeben ist, und schließt gerade insofern die sinnlichen Inhalte ins phänomenologische Forschungsfeld ein, als er im Gegensatz zu Brentano meint, dass sie ebenso wie die Akte erlebt sind (Hua XIX, 767-775). Dinge erwachsen demnach aus zwei bewusstseinsimmanenten Beständen: Die Empfindungsinhalte, die den formlosen Stoff der Auffassung ausmachen, und der Auffassungsakt, der den Empfindungsinhalten eine Form verleiht, indem er sie beseelt und als Erscheinungen des transzendenten Gegenstandes deutet. In der sinnlichen Konstitution waltet demzufolge die Gesetzmäßigkeit der Formgebung und die Natur ist eine „Schöpfung“ des Subjekts (Hua XLII, 170).
54Dies widerspricht der Lehre der materialen Gesetzmäßigkeit, wonach sinnliche Formen nicht den Akten des Subjekts, sondern der Wesenseigenart der Inhalte entspringen. Gegen die These, dass bloß sinnliche Eigenschaften gegeben sind und Dinge Denkkonstrukte oder Fiktionen bilden, behauptet Husserl, dass Dinge in der Natur der Eigenschaften gründen und ebenso sinnlich gegeben sind. Da er aber die Empfindungsinhalte als das eigentlich Gegebene und das Ding als das Ergebnis ihrer Deutung ansieht, fällt er in den Sensualismus zurück.
55Das Schema Inhalt/Auffassung zieht zudem die von Husserl abgelehnte Schlusstheorie der Wahrnehmung mit sich. Denn dem Schema gemäß gelten die Empfindungsdaten (ausgenommen die urhyletischen Daten im ursprünglichen Zeitbewusstsein) als immanente Urgegenstände (Hua IV, 214; Hua XXXIX, 7), weil „die Rede von Daten und dann Auffassungen gerade den Gedanken von im Voraus schon seienden Gegenständen, die nachkommend in Funktion genommen werden, mit sich führt“ (Hua XXXIX, 16 Anm. 2):
In der Genesis […] müssten alle Daten […] zunächst thematisch gewesen sein, in gewisser Weise als Enden fungiert haben, aber diesen Gegenstandscharakter haben sie nach der Konstitution einer Welt verloren. Er ist irgendwie – sollen wir sagen: durch beständigen Nicht-Gebrauch oder durch beständiges und ausschließliches Fungieren als Durchgang – in Verfall geraten (ebd. 17).
56Immanente Empfindungsinhalte sind das einzig unmittelbar Gegebene und können entweder schlechthin erlebt werden oder als „Unterlage“ bzw. „Fundamente der Auffassung“ (Hua XI, 17; Hua XIX, 399), d.h. als Zeichen oder Bilder transzendenter Gegenstände dienen.26 Denn in der immanenten Wahrnehmung „ist der präsentierende Inhalt zugleich der präsentierte“ und „steht für sich selbst“, während in der äußeren Wahrnehmung „die Empfindungen als Präsentanten […] für etwas anderes [gelten], als sie selbst sind“ (Hua XXXVIII, 19; Hua XIX, 769f.; Hua XI, 17). Demgemäß – in Widerspruch mit seiner These, transzendente Gegenstände seien „durch […] äußere Erfahrung unmittelbar gegeben“ (Hua XXXVI, 178) – bezeichnet Husserl die äußere Wahrnehmung als „ein mittelbares Bewusstsein, sofern unmittelbar nur […] ein Bestand von Empfindungsdaten […] und eine apperzeptive Auffassung“ gehabt sind (Hua XI, 18). Raumgegenstände „konstituieren sich schon mittelbar, durch ,Apperzeption‘ von Empfindungsgegenständen“, während Empfindungsgegenstände „unmittelbar sinnliche Gegenstände“ sind und „als apperzeptive Repräsentanten für höherstufige apperzipierte Gegenstände dienen“ (Hua XXXIII, 319).
57Seine frühe Ansicht, dass Vorstellungen, „die ihre ,Gegenstände‘ nicht als immanente (also im Bewusstsein gegenwärtige) Inhalte in sich schließen“, als „Repräsentationen“ gelten (Hua XXII, 107f.), hat Husserl nie wirklich preisgegeben. Was kein Erlebnis oder „innerlich Bewusstes“ ist, ist ihm zufolge „in zweiter Linie“, d.h. in einer „mittelbaren Weise“ bewusst (Hua XIV, 45, 51), da „ausschließlich die unmittelbaren Erlebnisse“ gegeben sind (Hua VII, 352). Er vermeint, dass die Gegebenheit des Transzendenten auf der Gegebenheit des Immanenten fundiert ist und somit die äußere Wahrnehmung eine Repräsentation bildet, eben weil nach ihm – genauso wie nach Brentano – erst das Psychische wirklich besteht und gegeben ist, weshalb die innere Wahrnehmung – in der der Inhalt im Akt reell beschlossen ist, mithin esse und percipi zusammenfallen – die einzige Wahrnehmung im eigentlichen Sinne ist.27 Gerade „die falsche Lehre eines Evidenzvorzuges der inneren Wahrnehmung vor der äußeren“ bildet die „Grundstütze aller ,idealistischen‘ und ,psychologischen‘ Erkenntnistheorien“ sowie „alles philosophischen subjektiven Idealismus und Egozentrismus“ (Scheler 1972, 255, 215).
58Wie Lewis (1929, 189-194) bemerkt, hat die Rede von Erkenntnis nur insofern Sinn, als der Erkenntnisinhalt unabhängig vom Geist besteht, da Erkenntnis etwas erstrebt, das jenseits ihrer selbst liegt. Husserl erahnt, dass Erkenntnis bloße Illusion ist, wenn Gegenstände sich auf Eigentümlichkeiten oder Zusammenhänge des Bewusstseins reduzieren (Hua XXXVI, 26), und missbilligt die These, dass nur Bewusstsein bzw. Psychisches wahrhaft besteht und Naturobjekte ein Schein oder Fiktum sind (ebd. 70f., Hua XXXV, 276). Das sind jedoch die Konsequenzen seines Ansatzes: Insofern die Bestände, aus denen sie zustande kommen, dem Bewusstsein reell einwohnen, sind Dinge das Ergebnis einer Projektion oder eines Schlusses aus dem Immanenten;28 und insofern das Physische bloß in Bewusstseinszusammenhängen besteht (Hua XIII, 7; Hua XXXVI, 32), gibt es eigentlich „gar nichts anderes als ,Geister‘“ (Hua XLII, 158; Hua XIII, 232). Bewusstsein „erschöpft damit die ganze physische Welt“ und ist „das Absolute“ (Hua XIII, 6). Gerade solche Reduktion des Seienden auf das Bewusstsein oder Auflösung der Welt in Bewusstseinszusammenhänge gilt Husserl als Idealismus.29 Sie allein (und nicht der sogenannte Beweis für den transzendentalen Idealismus) ermöglicht, das Sein der Welt und alles Realen im Bewusstsein ontologisch zu begründen und die starke Fassung der transzendentalen Einsicht zu vertreten.
59Dadurch wird der funktional-erkenntnismäßige Vorrang des Subjekts zu einem substantiell-ontologischen: Da es eine „Innerlichkeit“ hat und auf sich selbst reflektieren kann, ist das Subjekt „für sich“30 und eigentlich existieren nur die Subjekte und ihre bewusstseinsimmanenten Bestände,31 also nur das Psychische. Über die weltkonstituierende Subjektivität hinaus ist daher „nichts“ (Hua Mat VIII, 442) und Bewusstsein gilt als die „Substanz“, die den „tragenden Seinsgrund“ der Welt bildet (Hua XIV, 292).
60Husserls Idealismus 1) entstammt keineswegs der transzendentalen Wende, sondern dem „Satz von der ursprünglichen Bewusstseinsimmanenz alles Gegebenen“ (Scheler 1976, 208) oder dem „principle of immanence“, nach dem die Urdaten der äußeren Wahrnehmung dem Bewusstsein reell immanent sind und das von der naturalistischen Ansetzung einer nicht-phänomenalen Wirklichkeit abhängt (Philipse 1995, 258f., 292-300); 2) er liegt bereits in der ersten Auflage der Logischen Untersuchungen, wo es heißt, dass „die objektiven Gründe aller Rede von physischen Dingen und Ereignissen in bloßen gesetzmäßigen Korrelationen [...] zwischen den psychischen Erlebnissen“ liegen (Hua XIX, 371 Anm.) und dass die transzendent erscheinenden Sinnendinge „aus demselben Stoff konstituiert sind, den wir als Empfindungen zum Bewusstseinsinhalt rechnen“ (ebd. 764 Anm.), also – wie Philipse (1995, 265) in Anknüpfung an De Boer bemerkt – bloß Komplexe von objektivierten Empfindungen sind; 3) er ist nichts als der von Husserl zurückgewiesene subjektive oder psychologische Idealismus,32 d.h. der Psychologismus. Letzterer besteht nämlich darin, dass die Gegenstandsarten „psychologisiert werden, weil sie sich, wie selbstverständlich, bewusstseinsmäßig konstituieren“, indem der „Sinn [der Gegenstände] als eine Art von Gegenständen eigentümlichen Wesens negiert [wird] zugunsten der subjektiven Erlebnisse“ (Hua XVII, 177f.).
10. Psychologismus
61Der phänomenologische Idealismus ist Psychologismus, insofern die Phänomenologie Psychologie ist und alles ins Psychische auflöst. Denn die transzendentale Einstellung ist eine Art „Introspektion“ (Hua XXXIV, 67; Hua XV, 23), die auf Empfindung und Auffassung geht (Hua XXXVI, 129), und die Methode der Phänomenologie ist dieselbe der apriorischen Psychologie (Hua XVII, 261): Transzendentale Psychologie und transzendentale Phänomenologie sind identisch, da beide die transzendentale Innerlichkeit betreffen (Hua VI, 261-269). Die Psychologie gilt daher als Feld oder Stätte der Entscheidungen (ebd. 212, 218), wie der Psychologismus behauptet.
62Husserl hat nie den psychologischen Ansatz preisgegeben, sondern nur dessen Name geändert. Die Behauptung der Logischen Untersuchungen, dass „die Inhalte in der psychologischen Analyse zu Wahrnehmungsobjekten werden“ wird in der zweiten Auflage bloß dahingehend geändert, dass „psychologischen“ durch „reflektiven phänomenologischen“ ersetzt wird (Hua XIX, 202).33
63Husserls Auffassung der Phänomenologie als Aktreflexion wird – über Brentano – von Lockes psychologischer Deutung der Reflexion als innerer Wahrnehmung geprägt und beruht auf der Vermeinung, dass Akte und Empfindungen zur Sinnlichkeit gehören, weshalb die innere Wahrnehmung sinnliche Wahrnehmung ist.34 Nun, insofern immanente Empfindungsinhalte keinen deskriptiven Gehalt haben und nicht sinnlich gegeben, sondern postuliert werden, löst die Phänomenologie das Gegebene in theoretische Konstrukte auf, indem sie in den erklärenden Ansatz der Naturwissenschaften zurückfällt, aus dessen Ablehnung sie stammt.35
64Die Auflösung der Welt ins Bewusstsein ist Konsequenz der Psychologisierung der als Urstoff der Konstitution fungierenden sinnlichen Inhalte, d.h. der Auffassung solcher Inhalte als bewusstseinsimmanent. Diese Auffassung ist verkehrt. Denn: 1) Ist Bewusstsein keine Schachtel, wie Husserl ständig behauptet,36 dann enthält es nichts, weshalb sinnliche Inhalte dem Bewusstsein nicht einwohnen; 2) Sinnliche Inhalte sind nicht immanent, weil sie ausgedehnt sind. Anders als Husserl meint, ist die optische Erscheinung kein „Komplex so und so sich ausbreitender Farbenflächenmomente, die immanent sind“ (Hua XI, 17). Ein sich Ausbreitendes kann keineswegs immanent sein. Immanente Daten sind farblos, ausbreitungslos und somit unräumlich, während Farbenflächenmomente farbig, ausgebreitet und somit räumlich, also nicht immanent sind. Wenn Husserl sagt, dass Farben ausgedehnt oder ausgebreitet sind, sich vom Hintergrund durch Kontrast abheben und sich zu einem sinnlichen Feld zusammenschließen, spricht er nicht von bewusstseinsimmanenten Daten, da solche Eigenschaften mit der Bewusstseinsimmanenz unverträglich sind.37
65Das Bestehen immanenter Farben wird durch ein Wesensgesetz ausgeschlossen: Eine Farbe kann nicht ohne eine durch sie überdeckte Ausdehnung sein (Hua XIX, 257). Von einer immanenten Farbe gilt also dasselbe, was Husserl von einem runden Viereck sagt, wenn er die Lehre vom immanenten Gegenstand widerlegt: Derartiges kann weder in noch außer der Vorstellung existieren (Hua XXII, 310), also weder innerhalb noch außerhalb des Bewusstseins. Da er allerdings meint, die angeschaute Farbe (die sowenig wie der angeschaute Gegenstand im Erlebnis reell beschlossen ist) sei der Vorstellung immanent und existiere als deren reeller Bestandteil (ebd. 309f.), setzt Husserl einen empfundenen immanenten Inhalt an, der als Repräsentant des wahrgenommenen transzendenten Inhalts dient: In den „immanent empfundenen Farben stellt sich […] eine identische räumlich extendierte Körperfarbe“ dar (Hua XI, 17), denn das „Empfindungsdatum“ fungiert „als Repräsentant“ oder „Stoff der ,Auffassungs‘-Funktion“ (Ms. B III 9/57b-58a) und die „immanente“ (Hua Mat VIII, 109) oder „Empfindungshyle“ (ebd. 110) als „,Auffassungs-Materie‘ für die Wahrnehmung der naturalen Hyle“ (ebd. 111).
66Husserl zufolge ist die ichfremde Hyle „subjektiv“, weil sie „sich als reell einig mit dem Ichlichen gibt“ (Hua XIV, 52), mithin ein „Immanentes“ ist (ebd. 51) und „innerhalb der Innerlichkeit“ liegt (Ms. E III 2/22a), während das Transzendente „objektiv, dem Ich und allem Subjektiven […] gegenüberseiend als nicht-subjektiv“ ist, weil es nicht „als reell einig mit dem Subjektiven gegeben sein kann“ und „sich als etwas gibt, was vom Vermeintsein und Wahrgenommensein unabhängig ist“ (Hua XIV, 52). Nun, anders als Husserl meint, gilt letzteres nicht nur für sinnliche Gegenstände, sondern für alles Sinnliche, Ichfremde, Hyletische, Sachliche: Sowohl die „Hyle im erweiterten Sinne“, die aus dem „impressional oder wahrnehmungsmäßig weltlich Erscheinenden“ besteht (Hua Mat VIII, 70), als auch die Urhyle, die aus dem ichfremden Kern der Sinnesfelder besteht (ebd. 110, 295; Hua XXXIX, 432), sind keineswegs immanent und subjektiv, sondern transzendent und nicht-subjektiv bzw. objektiv.
11. Schluss
67Husserls Idealismus ist ein Erbe von Brentanos Psychologie. Bei Brentano hängt der psychologische Immanentismus mit der Annahme einer Außenwelt im metaphysischen Sinn zusammen. Nach den Logischen Untersuchungen gibt Husserl solche Annahme preis, aber hält am psychologischen Immanentismus fest, aus dem sie stammt. Demzufolge schreibt er sowohl den Stoff als auch die Form der sinnlichen Konstitution dem Bewusstsein zu und betrachtet die Welt als eine Schöpfung des Subjekts.
68Indem man gegen Husserl auf Husserl selbst rekurriert, ist folgendes zu bemerken. Jenseits der Erfahrung existieren keine wirklichen Entitäten. Sowohl immanente Inhalte im psychologischen Sinn als auch transzendente Entitäten im metaphysischen Sinn sind theoretische Substruktionen, die in der Erfahrung nicht gegeben sein können. In der Erfahrung sind ichfremde sinnliche Gehalte antreffbar, die nicht dem Bewusstsein einwohnen und ohne Eingreifen des Subjekts gegeben sind. Sie weisen eine Struktur auf, die nicht durch das Subjekt hergestellt wird, sondern in ihrer sachlichen Natur gründet und ebenso wie sie sinnlich gegeben ist. Das Reale besteht gerade aus sinnlichen Gehalten mit ihrer sinnlichen Struktur.
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70Danksagung Ich danke der Direktorin des Husserl-Archivs in Löwen, Prof. Julia Jansen, für die Genehmigung, aus Husserls unveröffentlichten Manuskripten zu zitieren, sowie Wolfgang Kaltenbacher für die Hinweise zur Verbesserung des Textes.
71Die Bände der Reihen Husserliana und Husserliana Materialien werden mit den Abkürzungen „Hua“ und „Hua Mat“ zitiert.
72
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Notes
1 Ein Beispiel dafür ist Zahavi (2017).
2 Vgl. Hua II, 11, 35; Hua XIII, 169-171; Boehm (1968, 141-185); Kern (1964, 212f.); Holenstein (1972, 89 Anm. 2); Ingarden (1992, 131-160).
3 Husserl bestimmt die „Umgebung des Ich“ ähnlich wie die ichfremde Hyle (unten, § 4), nämlich als das, „was das Ich, um einen actus zu vollziehen, als vorgegeben, als sein Feld voraussetzt“ bzw. was auf das Ich „Reize“ ausübt und dem das Ich „sich zuwenden kann“ (Ms. E III 2/22b). Die „Hyle im erweiterten Sinne“ besteht gerade aus dem „impressional oder wahrnehmungsmäßig weltlich Erscheinenden“ (Hua Mat VIII, 70).
4 Vgl. Hua XIX, 288-291, 665-667, 714-716; Hua XXXI, 101; Hua XLI, 128; Husserl (1972, 214-223, 296f.).
5 Vgl. De Palma (2014).
6 Wenn Hopp behauptet, dass „not only physical objects, but ideal objects […] are real“ (Hopp 2020, 282), und den metaphysischen Realismus in Bezug auf „ideal entities such as universals“ unterstützt (ebd. 270), widerspricht er Husserls Ansatz, wonach Spezies keine reale Existenz außerhalb des Denkens besitzen (Hua XIX, 127), indem er eine idealistische und widersinnige These vertritt. Ideale Entitäten sind nicht real.
7 Als die einzigen echt anschaulichen Wesen gelten Husserl die sachhaltigen, d.h. sinnlichen Wesen, denen allein „individuelle[] Vorstellungsinhalte[]“ entsprechen: Formale Wesen sind „nicht anschaulich erfassbar“, „unanschaulich“, also nicht „in Wesensanschauung zu geben“ (Hua XLI, 160 und Anm. 1).
8 Vgl. Hua XXXVI, 177; Hua I, 116; Hua XVII, 237f.; Hua VI, 83.
9 Vgl. Hua XI, 166f.; Hua Mat VIII, 184, 189; Hua XLII, 28, 34, 35.
10 Vgl. De Palma (2015).
11 Vgl. Lewis (1929, 28, 56, 143, 162-166); Smith (2003, 166, 168f., 172f., 186).
12 Vgl. Smith (2003, 167-176).
13 Hierbei kommen freilich die Anomalitäten ins Spiel: „Es gibt keine starre Welt“, da sie „nur in der Relativität von Normalitäten und Anomalitäten“ ist (Hua XV, 212). Aber die sinnliche Relativität ist sachlich gegründet und für jedes mögliche Subjekt unaufhebbar.
14 Sinnliche und kulturelle Relativität sind grundverschieden: Bei Kulturobjekten gehört die Subjektbeziehung „zu ihrem eigenwesentlichen Inhalt selbst, mit dem sie jeweils gemeint und erfahren sind“, während ein Ding „in seinem Erfahrungsgehalt selbst, in seinem gegenständlichen Sinn selbst nichts von einer darauf bezogenen Subjektivität“ birgt (Hua IX, 118), weshalb seine Relativität bloß eine Relativität auf die Leiblichkeit ist (Hua XV, 47f.). Die Leibabhängigkeit der Erscheinungen veranlasst jedoch keineswegs die erkenntnistheoretische Relativierung der Erscheinungen, die Gleichstellung der normalen und anomalen und die Annahme, dass die sinnendinglichen Bestimmtheiten der realen Dinge diesen selbst nicht zukommen. Denn es sind nicht die betreffenden Erscheinungen normal, da sie psychophysisch auf eine gewisse normal genannte Organisation des Leibes bezogen sind; sondern eine reale Welt konstituiert sich so, dass sich die Systeme normaler Erscheinungen in der psychophysischen Regelung der mitkonstituierten Leiblichkeit zuordnen, wobei eine gewisse Organisation des Leibes vorausgesetzt wird (Hua XIII, 369).
15 Husserl behauptet, die Welt sei ein „ideale[s] Gebilde der transzendentalen Subjektivität“, also „kein ein für alle Mal fertiges, starres Gebilde“, da sie „immerfort seiend aus beständiger Zeitigung“ ist und „eine gewisse Relativität ihres zeitlichen Seins in sich [trägt], eine Subjektbezogenheit, die sich darin bekundet, dass die Welt selbst zeitlich gegenwärtige, vergangene, künftige Welt ist, und in gewisser Weise sich selbst in sich selbst zeitigend“ (Hua Mat VIII, 390). Ganz im Gegenteil ist die Welt insofern zeitlich, als sie nicht ideal, sondern real ist. Denn Zeitlichkeit gilt als „charakteristisches Merkmal der Realität“ (Hua XIX, 129), während die „Zeitlosigkeit“ die idealen Gebilde auszeichnet (Husserl 1972, 313).
16 Vgl. Lewis (1929, 217-221).
17 Vgl. Smith (2003, 188-200).
18 Denn „it implies denial only that there is any objective thing or fact which is intrinsically unknowable – which could not be evidenced to any actual or even any supposititious observer. […] Our commitment to objective reality, independent of being experienced, is signalized […] in our assertion of the observability of what is not observed; of the verifiability of what remains unverified; or possibilities of experience which never become actual“ (Lewis 1946, 229f.).
19 Vgl. De Palma (2012, 213-216).
20 Anders als Husserl manchmal behauptet (Hua XLII, 148-150, 156f.), haben wir nicht leere Wahrnehmungsmöglichkeiten von der Welt vor dem Auftreten organischer Wesen, vom Erdinnern und dgl. Da ihr Korrelat ein Sinnliches ist, in der raumzeitlichen Ichumgebung liegt und somit prinzipiell wahrnehmbar ist, sind solche Wahrnehmungsmöglichkeiten durch faktische Gründe „nie und nimmer realisierbar“, also real.
21 Bezüglich der Annahme, dass, wenn alle Geister von der Erde verschwinden sollten, die Sterne auch weiterhin in ihren Bahnen ziehen würden, bemerkt Lewis: „We can only express or envisage this hypothesis by means of imagination, and hence in terms of what any mind like ours would experience if, contrary to hypothesis, any mind should be there. But we do not need to commit the Berkeleyan naïveté that it is impossible to imagine a tree on a desert island which nobody is thinking of—because we are thinking of it ourselves“ (Lewis 1934, 143f.). Denn „that the appearance is there when not observed, means that if any observer were there he would observe it“ (Lewis 1929, 64 Anm.).
22 Vgl. Hua I, 103; Hua V, 147; Hua VI, 205; Tugendhat (1967, 198f.).
23 Vgl. Hua XXIV, 405-412; Hua II, 11-14; Hua Mat VII, 64f.; Kern (1975, 432-437).
24 Vgl. De Palma (2011, 211-213).
25 Vgl. Lohmar (2012).
26 Vgl. Hua XIX, 80f., 623, 647, 770; Hua XXXVIII, 34f.; Melle (1983, 40-51).
27 Vgl. Brentano (1924, 14, 28, 128f.); Hua XIX, 365f., 646-650, 753, 769-771; Hua XXXVIII, 19; Hua XXXVI, 21-42, 62-72; Hua XI, 16-24.
28 „Sind das in der Wahrnehmung eigentlich Gegebene Sinnesdaten, dann ist entweder alles gegenständlich Bewusste als Auffassungskorrelat bloße gedankliche Konstruktion, eine bloße Bedeutung – die sinnlichen Daten gelten als eine Art Zeichen – oder wir erklären das anschauliche Gegebensein der Gegenstände […] aus einer Projektionsleistung zugrundeliegender verborgener Tätigkeiten der Seele an irgendwelchen ebenfalls verborgenen Stoffen. […] Wie sollte auch das Bewusstsein als reell-immanenter Zusammenhang allein aus reell immanenten Stoffen und reell immanenten Auffassungen eine andere als eine ideale Wirklichkeit hervorbringen? Es kann die Stoffe auffassen als etwas anderes darstellend, sei es symbolisch oder abbildlich, das ist ein Gedanke, es kann sie selbst auffassen als transzendente Gegenstände, das ist eine Fiktion“ (Melle 1983, 50f.). Zu Husserls Auffassung der Wahrnehmung als Projektion vgl. auch Philipse (1995, 262-267). Husserl selbst spricht von „Projektion“ und projizierender Darstellung“ in Bezug auf die Empfindungen (Hua XVI, 160, 340).
29 Vgl. Hua XXXVI, 27, 32, 138; Hua XLII, 577; Ms. B I 4/15a. Wie Schuhmann und Smith (1985, 774) bemerken, übernimmt Husserl Windelbands Bezeichnung des Idealismus als der „Auflösung der Erfahrungswelt in Bewusstseinsprozesse“ (Windelband 1900, 463 Anm. 1).
30 Vgl. Hua XIII, 463 Anm. 2, 479; Hua XIV, 257, 260, 275, 292; Hua VIII, 189; Hua XXXV, 277-279. Dies erinnert an Fichte (1970, 196): Die Intelligenz ist „für sich selbst“, denn sie „sieht sich selbst zu; und dieses sich selbst Sehen geht unmittelbar auf alles, was sie ist, und in dieser unmittelbaren Vereinigung des Seins und des Sehens besteht die Natur der Intelligenz“. Ein Ding ist nicht für sich selbst, „sondern es muss noch eine Intelligenz hinzugedacht werden, für welche es sei; dagegen die Intelligenz notwendig für sich selbst ist, was sie ist, und nichts zu ihr hinzugedacht werden braucht. Durch ihr Gesetztsein, als Intelligenz, ist das, für welches sie sei, schon mit gesetzt“. Während also in der Intelligenz die doppelte Reihe des Seins und des Zusehens, des Realen und des Idealen ist, kommt dem Ding erst die Reihe des Realen, d.h. „ein bloßes Gesetztsein“ zu: „Intelligenz und Ding sind also geradezu entgegengesetzt: sie liegen in zwei Welten, zwischen denen es keine Brücke gibt“.
31 Vgl. Hua I, 182; Hua XIII, 232f.; Hua XVII, 279f.; Hua XIV, 278.
32 Vgl. Hua III, 120f.; Hua VII, 246f.; Hua I, 118; Philipse (1995, 285-287).
33 Vgl. De Palma (2016). Zahavi (2017, 6-29) leugnet, dass die Phänomenologie auf Introspektion beruht, da er sich mit Husserls Versicherungen genugtut und die Sachen selbst wie auch die angeführten Stellen übersieht, wo Husserl die transzendentale Einstellung als Introspektion bezeichnet.
34 Vgl. Hua XIX, 668, 706-709; Kern (1975, 248-254).
35 Vgl. Philipse (1995, 299f.).
36 Vgl. Hua XIX, 169; Hua Mat III, 114; Hua II, 12, 71f., 74f.; Hua IX, 435, 437; Hua XXXV, 86, 122f., 175.
37 Vgl. Tugendhat (1967, 72f.); Holenstein (1972, 86-89, 101-103); Hopp (2020, 162-166). Schon Merleau-Ponty (1974, 23) bemerkt: „Qualitäten sind nicht Bewusstseinselemente, sondern Eigenschaften eines Gegenstandes“.