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- Volume 19 (2023)
- Numéro 6
- Husserls Positivismus. Eine Darstellung und Verteidigung
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Husserls Positivismus. Eine Darstellung und Verteidigung
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Résumé
Reality can be regarded either as the intelligible (the correlate of thought) or as the sensuous (the correlate of experience), as remarked by Plato and Hegel, and it is necessarily posited as objectively existing and ascertainable, namely as a positive. Hence, one can hold either a positivism of the sensuous, like Husserl, or a positivism of the intelligible, like the German idealists. According to the former, the real is the sensuous given and has eidetic structures independent of thought, therefore logical thought-forms have no real meaning, proper ontology is the eidetic description of the given as such, and world-constitution has an irrational ground. According to the latter, instead, the real is the thought and has a logical structure, whereas the sensuous given is an illusion. Unlike Husserl’s, however, the idealists’ positivism cannot account for world-constitution, because it downplays the constitutive function of the sensuous given and its structures, which cannot be really modified by thought.
Inhoudstafel
weil das Denken sich einbildet, unmittelbar das Andere seiner selbst zu sein, sinnliche Wirklichkeit, also ihm seine Aktion auch für
sinnliche wirkliche Aktion gilt, so glaubt das denkende Aufheben,
welches seinen Gegenstand in der Wirklichkeit stehen lässt,
ihn wirklich überwunden zu haben.
(Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte)
1. Einleitung
1In der programmatischen Einführung zum ersten Band der Zeitschrift für immanente Philosophie bezeichnet Kauffmann (1895) die immanente Philosophie als einen immanenten oder idealistischen Monismus, dessen Vorläufer Locke, Berkeley und vor allem Hume sind.
2Husserl übernimmt ausdrücklich die positivistische Immanenzphilosophie.1 Er meint, der „erste Keim“ der phänomenologischen Reduktion liege in Hume, in Mills „Lehre von den permanenten Empfindungsmöglichkeiten, auf welche das Dasein des äußeren Dinges reduziert werden soll“, und im „Empfindungsmonismus eines Mach, der ebenfalls dem Ding zusammenhängende Empfindungsgruppen substituiert“ (Hua XIII, 180). Denn die „Wahrheit, die wir von Locke, Berkeley, Kant und den Positivisten von Mill bis Mach verdanken“, ist, dass das Naturding „ein immanenter Gegenstand“ ist, weshalb das Natursein „ganz und gar geborgen im Bewusstsein“ ist (Hua XXXVI, 69f.). Mill, Schuppe und Avenarius gelten Husserl geradezu als „Transzendentalphilosophen“, nämlich als Vertreter von „Transzendentalphilosophien“, die vom englischen Empirismus und besonders von Hume bestimmt wurden (Hua VI, 198). Husserls psychologisch-introspektive Auffassung des Begriffs „transzendental“ (ebd. 100)2 sowie seine Auffassung des Idealismus als Reduktion des Seienden auf das Bewusstsein oder Auflösung der Welt in Bewusstseinszusammenhänge3 sind durch den immanenten Monismus geprägt. In den Logischen Untersuchungen heißt es, dass Sinnendinge „aus demselben Stoff konstituiert sind, den wir als Empfindungen zum Bewusstseinsinhalt rechnen“ (Hua XIX, 764 Anm.). Später behauptet Husserl, Bewusstsein „erschöpf[e] […] die ganze physische Welt“ (Hua XIII, 6), weil das Physische bloß in Bewusstseinszusammenhängen besteht (ebd. 7; Hua XXXVI, 32) und es eigentlich „gar nichts anderes als ,Geister‘“ gibt (Hua XLII, 158; Hua XIII, 232).
3Die vorliegende Arbeit behandelt jedoch nicht die idealistisch-immanentistischen Züge, die Husserls Denken vom Positivismus erbt,4 sondern die Implikationen von Husserls Ansatz, wonach das Reale im sinnlich Gegebenen besteht und eine vom Denken unabhängige sachliche Struktur hat.
4Selbst solcher Ansatz ist positivistischer Herkunft. Denn wie Fink bemerkt, ist Husserls Denken von einer „Aversion gegen den Begriff“ und einer „Ablehnung der Spekulation“ geprägt, die auf einem „Vorurteil über die spekulative Tradition der Philosophie (spekulativ = formal = abstrakt = Begriffsprimat = Anschauungsferne!)“ beruhen (Fink 1940, Thesen 43, 14, 4). Indem er „die Rückkehr in die ,Unmittelbarkeit‘ und ihre Rehabilitierung“ beabsichtigt, vollzieht Husserl einen „Verzicht auf Metaphysik, der sich interpretiert als Hunger nach Wirklichkeit, nach Realitätsfülle“ (ebd. Thesen 29, 54). Solche „antimetaphysische, antispekulative Haltung und das Idol der Gegebenheit“ erbt Husserl gerade vom Positivismus (ebd. These 5).
5Husserl selbst erklärt, dass die Phänomenologie aus einer Radikalisierung der Methode von Mach und Hering stammt, die eine Reaktion gegen die in exakten Naturwissenschaften drohende Bodenlosigkeit eines Theoretisierens in anschauungsfernen Begriffsbildungen und mathematischen Spekulationen war (Hua IX, 302). Die Phänomenologie ist gerade durch die Missbilligung des spekulativen Denkens ausgezeichnet. Die Rede vom Sein setzt zwar das Recht des Denkens voraus (Hua XXXVI, 41), weil sich das Sein im Denken ausweist. Aber neben einem bloß formalen und bodenlosen Denken gibt es ein auf Anschauung und Erfahrung beruhendes Denken. Husserl zufolge ist „Reales nur aus der Anschauung zu ziehen“ (Hua XXXII, 120) und Spekulation bildet ein „Denken in bloßen Wortbedeutungen“ (Hua XLII, 271 Anm. 1), nämlich ein bodenloses Denken, das auf keiner entsprechenden Erfahrung beruht und sich in formaler Abstraktion bewegt (Hua IX, 345; Hua XXXII, 239). „Spekulation lässt sich nicht berichtigen, berichtigen kann man nur in einer Sphäre gegebener Sachen“ (Brief an E. Spranger, ca. 1.IX.1918). Dem spekulativen Philosophieren von oben her, das sich im reinen Denken bewegt, stellt Husserl seinen Intuitionismus (Hua XXXV, 288-291) und den Scheinevidenzen der formalen Konstruktionen den Rückgang auf die intuitiven Ursprünge der Abstraktionen entgegen (Hua XXXII, 90). Gegen die „Mythologie“ des „reinen“ oder „abstrakten Denkens“ schreibt er:
„Reines“ Denken ist wertlos, nicht nur weltlich gegenstandslos, wie Kant meinte, als ob es Denkmöglichkeiten offenließe, die nur für die seiende Welt (Kants Erscheinungswelt) keine Anwendung gestatteten. Prinzipiell stammen alle Begriffe aus Anschauung und haben einen Sinn, der auf Anschauung sich bezieht. […] Also es gibt kein reines Denken, das zu anderer Wahrheit führt als der bloßen Wahrheit der Konsequenz, die da formal-logische Widerspruchlosigkeit heißt (Ms. A VII 20/20a-21a).
6Ohne Beziehung auf eine sinnliche Anschauung verliert das Denken seinen Sinn (Hua Mat III, 174) und die Möglichkeit eines puren Intellekts, der ohne Sinnlichkeit seine Gegenstände als rein intellektuelle gegeben hat, ist „der reine Widersinn“ (ebd. 170). Die Phänomenologie kämpft demnach
gegen jede Erkenntnistheorie bloßer Allgemeinheiten, gegen jede Erkenntnistheorie, welche dialektisch von oben her über Erkenntnis spekuliert, statt sie nach ihren konkreten anschaulichen Gestaltungen selbst kennen zu lernen und einer adäquaten Wesensdeskription zu unterwerfen. Sie muss herabsteigen von der Höhe ihrer Allgemeinheiten auf das fruchtbare bathos der unmittelbar adäquaten phänomenologischen Wesenserschauung (Hua XXXV, 274).
7Husserl selbst erläutert, dass sein Positivismus ein Positivismus des anschaulich und unmittelbar Gegebenen ist und mit dem Vorzug des naturwissenschaftlichen Ansatzes nichts zu tun hat:
[Wir nehmen] unseren Ausgang von dem, was vor allem Standpunkt liegt: von dem Gesamtbereich des anschaulich und noch vor allem theoretisierenden Denken selbst Gegebenen, von alledem, was man unmittelbar sehen und erfassen kann […]. Sagt „Positivismus“ soviel wie absolut vorurteilsfreie Gründung aller Wissenschaften auf das „Positive“, d.i. originär zu Erfassende, dann sind wir die echten Positivisten. Wir lassen uns durch keine Autorität das Recht verkümmern, alle Anschauungsarten als gleichwertige Rechtsquellen der Erkenntnis anzusehen – auch nicht durch die Autorität der „modernen Naturwissenschaft“ (Hua III, 45).
8Diesbezüglich ist hervorzuheben, dass die kategoriale Anschauung keine eigentliche Anschauung bildet, weil formale Wesen „nicht zu veranschaulichende“ bzw. „unanschauliche“ sind (Hua XLI, 160 Anm. 2). Anschaulich gegeben sind erst individuelle, d.h. sinnliche Inhalte und sachhaltige, d.h. sinnliche Wesen, denen allein individuelle Vorstellungsinhalte entsprechen.5
9Im Folgenden wird zunächst eine Darstellung von Husserls Positivismus des Gegebenen oder Sinnlichen geliefert, indem seine Auffassung der Wissenschaft und ihrer Beziehung zur Erfahrung, seine Ansicht vom Verhältnis zwischen Formalem und Materialem sowie zwischen Logischem und Realem und sein Gedanke einer transzendentalen Ästhetik erläutert werden (§§ 2-5). Danach wird gezeigt, dass der geläufige Gegensatz von Positivismus und Antipositivismus abwegig ist, weil die Frage nicht ist, ob der Ontologie ein Positives zugrunde gelegt wird, sondern was für ein Positives der Ontologie zugrunde gelegt wird, das entweder das Intelligible bzw. Gedachte oder das Sinnliche bzw. Gegebene sein kann, weshalb die einzige Alternative zum Positivismus des Sinnlichen oder des Gegebenen (d.h. zum Realismus), der das Positive oder Reale als das Gegebene ansieht, der Positivismus des Intelligiblen oder der Idee (d.h. der Idealismus) ist, der das Positive oder Reale als das Gedachte ansieht (§ 6). Es wird dann ausgeführt, dass Fichtes und Hegels Positivismus des Intelligiblen sowie Adornos Versuch, aus ihm herauszukommen, verkehrt sind, weil sie die konstitutive Funktion des sinnlich Gegebenen verkennen, und dass das Wirkliche und seine sachlichen Wesensstrukturen unvernünftig, d.h. nicht aus apriorischen oder Vernunftgesetzen ableitbar sind, weil sie auf die zufällige Eigenart des sinnlich Gegebenen angewiesen sind (§§ 7-9). Schließlich werden das Verhältnis zwischen dem Denken und der Wirklichkeit (die wesensmäßig sinnlich ist) und die Aufgabe der Philosophie aufgrund des Ausgeführten kurz diskutiert (§ 10).
2. Wissenschaft
10Die Phänomenologie ist „antimetaphysisch, sofern sie jede in leer formalen Substruktionen sich bewegende Metaphysik ablehnt“ (Hua IX, 253). Metaphysische Entitäten sind gerade „leere Substruktionen eines […] bodenlosen Denkens“, die sich von den Gespenstern nur dadurch unterscheiden, dass sie keine Erfahrungswirklichkeiten sind und somit durch Erfahrung nicht widerlegt werden können (Hua XXXII, 216).
11Dasselbe gilt für die wissenschaftlichen Entitäten, weil die „objektive“ oder „wahre“ Welt der Wissenschaft die „Substruktion […] eines prinzipiell nicht Wahrnehmbaren, prinzipiell in seinem eigenen Selbstsein nicht Erfahrbaren“ ist (Hua VI, 130). Denn das physikalische Ding ist „eine nicht wahrnehmbare […] Einheit“, die „denkend den Erscheinungseinheiten unterlegen wird“ (Hua XLII, 149) und „nur ein formales Wesen“ hat, weil es nur die nach einer „Formel geregelte intentionale Einheit unendlich mannigfaltiger Erscheinungen ,aller Menschen‘ ist“ (Hua IV, 376f.).
12Wie Külpe (1910, 13, 22) bemerkt, können die naturwissenschaftlichen Gegenstände keine Sinnendinge, sondern müssen „Gedankendinge“ sein, weil die Naturwissenschaft eine Unabhängigkeit vom erfahrenden Subjekt fordert und Sinneseindrücke abhängig von den Sinnesorganen des Subjekts sind. Husserl zufolge betrachtet die exakte Physik die Erfahrungsgegebenheiten als bloße Erscheinungen eines „unerfahrbaren […] Idealen“ (Hua XXXII, 195), da sie beabsichtigt, „den Relativismus der sinnlichen Wahrnehmungen zu überwinden […] durch Substruktion einer Ideenwelt als der aller sinnlichen Relativität zugrunde liegenden an sich wahren Welt“ (ebd. 196). Das physikalische Ding ist demnach kein unbekanntes Ding der Erfahrung hinter den subjektiv-relativen von uns erfahrbaren Dingen, sondern „ein theoretisch konstruiertes Substrat für irrelative Prädikationen“, durch welches
jedermann in seiner subjektiven Lage und aufgrund seiner aktuell erfahrenen Umwelt nach der formal gleichen und somit von jedermann gleichsinnig durchführbaren Methode dieselbe Bestimmung gewinnen kann für jedes Ding, das er in seiner Erfahrung erfährt, und zugleich trotz aller Abweichungen als dasselbe, wenn auch subjektiv anders bestimmt erfährt, das jedermann auch erfahren kann und erfährt. Und umgekehrt: Jeder Vernünftige kann, die Formel lesend, wissen, was er in seiner Lage muss erfahren können (ebd. 202f.).
13Das physikalische Ding ist insofern nicht real, als es kein erfahrbares Sinnending, sondern ein ideales Gedankending ist. Da sie an sich sinnlich sind, sind Dinge, was sie sind, „als Dinge der Erfahrung“ (Hua III, 100) und äußere Erfahrung ist „der Modus der Selbsthabe von Naturobjekten“ (Hua XVII, 170). „Gegenstände sind als sie selbst in Erfahrung gegeben, Erfahrung ist Erfassung des Selbst“ (Hua XXXIV, 308).
14Husserls Wissenschaftskritik ist durch den positivistischen und besonders durch Machs Ansatz geprägt.6 1893 bezeichnet Husserl die Lehre von Comte, Beneke und Überweg, dass geometrische Begriffe aus einer „Idealisierung der empirischen, in der äußeren Anschauung wahrgenommenen Raumgebilde“ stammen, als „richtig“ (Hua XXI, 285). Am Ansatz, wonach wissenschaftliche Gebilde kein „wahres Sein“, sondern Produkte einer „Methode“ sind (Hua VI, 52), hält er lebenslang fest.
15Der Unterschied zwischen Brentanos szientistischem Positivismus und Husserls empiristischem Positivismus liegt darin, dass Brentano das naturwissenschaftliche Weltbild übernimmt, während Husserl es ablehnt. Nach Brentano sind die sinnlichen Inhalte „ein bloßer Schein“ (Brentano 1924, 250): Die Gegenstände der äußeren Wahrnehmung sind „nicht Dinge, die wahrhaft und wirklich bestehen“, sondern „Zeichen von etwas Wirklichem […]. An und für sich tritt das, was wahrhaft ist, nicht in die Erscheinung, und das, was erscheint, ist nicht wahrhaft“ (ebd. 28). Husserl behauptet das Entgegengesetzte. Gegen das Vorurteil, dass „die Sinnlichkeit, d.i. die vorwissenschaftliche Erfahrungswelt […] keine wahrhaft seiende sei“ (Hua VI, 397), hält Husserl „die Welt als die und so wie sie in wirklicher Erfahrung sich gibt, die ,Welt der Sinnlichkeit‘“ (ebd. 360), also die „vorgegebene“ oder „körperliche Natur“ (ebd. 461) für die einzig wirkliche und wahre Welt (ebd. 49; Hua XXIX, 140). Gegen die platonische, christliche und rationalistische „Degradation der Sinnlichkeit“ zu Quelle alles Scheins und Trugs identifiziert er das Reale mit dem Sinnlichen (Hua Mat III, 168-172).7
16Die objektive Wahrheit kann nicht erst durch die Vernunfterkenntnis herausgearbeitet werden: Würden Erfahrungen ganz anders laufen, wäre Natur nicht dieselbe, da der Vernünftige sie nur aus Erfahrung hat, alle vernünftigen Bewährungen auf die Einstimmigkeiten der Erfahrung zurücklaufen und Naturgesetze ihre faktische Gestalt aus dem faktischen Verlauf der Erfahrung in Beobachtungen und Experimenten haben (Hua XXXIX, 654 Anm. 2). Insofern ihr Recht vorausgesetzt wird, auch wenn es begrenzt wird (Hua XXXV, 475), ist Erfahrung kein zufälliger Ausgangspunkt, wovon man sich nachher befreien kann. Denn selbst für den Wissenschaftler fungiert die Gültigkeit des sinnlich Gegebenen als eine „Prämisse“, mithin nicht „als ein irrelevanter Durchgang, sondern als das für alle objektive Bewährung die theoretisch-logische Seinsgeltung letztlich Begründende, also als Evidenzquelle, Bewährungsquelle. Die gesehenen Maßstäbe, Teilstriche usw. sind benützt als wirklich seiend, und nicht als Illusionen“ (Hua VI, 129). Die Erfahrungswelt bildet demgemäß einen Boden ursprünglicher Evidenzen, auf den jede Bewährung zurückführt, da das in ihr Gegebene erfahrbar und bewährbar ist, während die gedanklichen Substruktionen der Wissenschaften wirkliche Wahrheit nur durch Rückbeziehung auf die sinnlichen Evidenzen haben können, die folglich eine „höhere Dignität der Erkenntnisbegründung gegenüber derjenigen der objektiv-logischen Evidenzen“ besitzen: Erfahrung ist „die Evidenzquelle der objektiven Feststellungen der Wissenschaften, die ihrerseits nie selbst Erfahrungen von dem Objektiven sind“, weil dieses — genauso wie „ein metaphysisch Transzendentes“ — „als es selbst nie erfahrbar“ ist (ebd. 130f.). Demnach ist jede wissenschaftliche Gestaltung auf die vorwissenschaftliche Lebenswelt zurückbezogen (ebd. 123f.), in die alle theoretischen Gebilde einströmen oder einrücken (ebd. 133, 141 Anm. 1).
17Insofern sie sich als wahr oder falsch ausweisen lassen müssen, haben physikalische Sätze „Beziehung auf die sinnliche Welt“ (Hua XXXII, 223) und jede exakt-ideale Feststellung indiziert „zugleich rückwärts den Umkreis der Anschauungen, die unter die Idee gehören“, denn der Physiker, der eine exakte Formel liest, weißt sofort, wie die betreffenden physikalischen Tatsachen sich sinnlich anschaulich darstellen werden: Weil „die praktische Subjektivität es mit keinen anderen Realitäten als den anschaulichen zu tun hat, so kann exakte Wissenschaft niemals die relative Wahrheit der anschaulichen Wissenschaften entbehrlich machen“ (ebd. 197). Man kann nämlich das Resultat eines wissenschaftlichen Experiments erst durch eine Wahrnehmung lesen, die erst durch andere Wahrnehmungen berichtigt werden kann. Da also Wahrnehmung als letzte Berufungsinstanz jeder Theorie fungiert und das Gegebene nicht bloß genetisch, sondern epistemisch unhintergehbar ist, können die sinnlichen Relativitäten nicht durch die Theorie überwunden werden (Hua VI, 135f.).
18Anders als Hegel meint, ist folglich das Sinnliche nicht „bloß das empirische Erste“ oder die „anfangende Grundlage“, sondern „die wahrhaft substantielle Grundlage“ (E, § 442 A) und Erfahrung bildet „den einzigen Boden der Erkenntnisse“ (E, § 40). Denn Erkenntnis schöpft ihr Recht erst aus Erfahrung (Hua XXXV, 289; Hua XXXII, 142), die „uns reales Dasein ursprünglich bezeugt“ (Hua VII, 244), den „Zugang zum Sein selbst“ (Hua XXXIX, 207) sowie „das Maß aller jeweiligen sonstigen Meinungen“ bildet (ebd. 685) und unhintergehbar ist, insofern „Erfahrung nur durch Erfahrung bewährbar und aufhebbar ist“ (ebd. 231), weshalb die Infragestellung einer Erfahrung das Vertrauen auf Erfahrung voraussetzt (Hua XVII, 164). Nur aus Erfahrung — die letztlich auf sinnliche Wahrnehmung zurückführt —8 hat die Wirklichkeit von Seiendem ihren Sinn und kann bestimmt werden (Hua XVII, 286f.).
19Das Grundprinzip der Phänomenologie lautet: „dem begrifflichen Denken und seinen Forderungen geht die Erfahrung mit ihren Forderungen vorher“ (Hua V, 34; vgl. Hua IX, 69; Hua XXXII, 233).
3. Formales und Materiales
20Husserls Denken liegt die „kardinale Scheidung“ zwischen der materialen und der formalen Wesenssphäre (Hua XIX, 256), d.h. zwischen dem vor dem Eingreifen des Subjekts Gegebenen und dem aus dessen Denktätigkeit Stammenden zugrunde. Den beiden Sphären entsprechen zwei Arten von Begriffen, apriorischen Gesetzen und Wesenszusammenhängen.
21Der Unterschied zwischen logischen oder formalen Begriffen und sinnlichen oder materialen Begriffen liegt darin, dass letztere ,,zufällig, ,a posteriori‘“ sind, weil sie ,,aus der Affektion“ stammen (Hua XLI, 101) und nur dann erfasst werden können, wenn ihre Einzelheiten „in ursprünglicher Passivität“ erfahren werden: Der Begriff „Farbe“ ist nicht erkennbar, wo keine singuläre Farbe sinnlich gegeben ist (Hua XXXVI, 147f.). Denn die Einzelfälle eines sinnlichen Begriffs sind gegeben, bevor er gebildet ist: Auch Subjekte, die den Begriff „Farbe“ nicht besitzen, können das erfahren, worauf er sich bezieht. Bei formalen Begriffen wie „Prädikat“ oder „Zahl“, die sich nicht auf sinnlich Erfahrbares beziehen, ist das nicht der Fall. Formale Begriffe werden nämlich durch Formalisierung, materiale Begriffe durch Generalisierung herausgefasst. Die Formalisierung besteht in der „gedanklichen Ausschaltung des Stoffes“ (Hua XXIV, 109) und führt von sachhaltig bestimmten Gegenständen zu formalen Gegenständen, die „bloße ,Gedachtheiten‘“ darstellen (Hua VII, 28), weil sie bloß durch formallogische, d.h. jedem Gegenstand unabhängig von seiner sachlichen Wesensbesonderheit zugehörige Bestimmungen charakterisiert sind. Der formale oder „Denkgegenstand“ ist gerade der Gegenstand, insofern er gedacht wird, d.h. ein Objekt, das ausschließlich von den logischen Formen bestimmt ist, wodurch es gedacht wird.9 Die Generalisierung besteht hingegen im Erfassen des sachhaltigen Wesens der sinnlich gegebenen Inhalte und führt vom sachhaltig bestimmten Einzelnen zum sachhaltig bestimmten Allgemeinen, da sie von den zufälligen individuellen Bestimmungen des Gegenstandes absieht, um „die Besonderheit des Inhalts“ (Hua XXIV, 109), d.h. die materiale Wesensstruktur herauszustellen, die allen Gegenständen eines bestimmten Typus dank ihrer sachlichen Eigenart zugehörig ist. Demzufolge bilden materiale Begriffe Abstraktionen, denen etwas sinnlich Erfahrbares entspricht, und sind nur durch ein Abstraktionsverfahren erfassbar, das den sachlichen Wesensinhalt nicht ausschaltet.
22Zu unterscheiden sind demgemäß formale Wesensgesetze, welche in logischen Begriffen gründen, die Vernunft nach ihren möglichen Aktionen zum Thema haben und für die analytischen Denkzusammenhänge gelten, und materiale Wesensgesetze, welche in sinnlichen Begriffen gründen, die Sinnlichkeit zum Thema haben und für die in Erfahrung erscheinende Realität gelten.10 Während die ersten apriorische Gesetze des Denkens sind und die durch Denktätigkeit erzeugten Denkinhalte (Urteile und Urteilsbestandstücke) betreffen, sind die zweiten apriorische Gesetze der Wirklichkeit und betreffen die vor der Denktätigkeit gegebenen sinnlichen Inhalte (Farben, Töne, Raumgestalten, Dinge). Wesensgesetzmäßigkeit waltet nicht nur im Denken, sondern auch in der Erfahrung (Hua XXXVII, 220-226; Hua XXVIII, 243), da es apriorische Wahrheiten gibt, die „auf sinnlichen Vorstellungen“ beruhen (Hua XXVIII, 403).11 Neben logischen oder formalen Wesenszusammenhängen, die von der sachlichen Eigenart ihrer Fundamente unabhängig sind und durch Denktätigkeit hergestellt werden, bestehen also sinnliche oder sachliche Wesenszusammenhänge, die in der Natur gegebener Inhalte gründen. Während bei jenen es bloß um „ein subjektives In-Beziehung-Setzen und Bilden einer Beziehung“ geht (Hua XLI, 262), liegen diese „vor der Vernunftfunktion der Begrifflichkeit und des Urteils“ (Hua VII, 224) und ergeben eine „materiale“ oder „reale Einheit“ (Hua XIX, 291; Hua XXXI, 105), weil sie nicht durch Denken gestiftet werden, sondern der Besonderheit der sinnlichen Inhalte entstammen und vor jedem Verbindungsakt gegeben sind.12
23Sinnliche und kategoriale Gegenstände haben demnach eine verschiedene Konstitutionsweise. Während bei letzteren „eine vorkonstituierende Aktivität der objektivierenden Erfassung vorangeht“ (Hua XXXI, 53), ist das Erfassen von ersteren „ein bloßes Rezipieren eines vorkonstituierten Sinnes“ (ebd. 41), da sie „passiv vorgegeben“ (Hua XI, 291), mithin „schon vor dem Erfassen ursprünglich da“ sind (Hua XXXIX, 40). Denn im Gegensatz zu Denkgebilden, die „für uns da aus unserer eigenen Denkaktivität“ und „ausschließlich von innen her gegeben sind“, treten äußere Objekte im subjektiven Erfahren „als schon im voraus daseiende“ auf, weil sie „ichfremd vorgegeben, von außen her gegeben“ sind (Hua XVII, 85f.). Sie entspringen nämlich nicht „aus Ichakten, aus personalem Tun“, sondern sind „ohne Beteiligung des Ich und seines Tuns gegeben“ (Hua XIII, 427).
24Das ist „ein fundamentalster Unterschied“ (Hua XI, 291), nämlich der Unterschied zwischen Realem und Idealem. Husserl zufolge hat Realität „einen Seinsvorzug vor jedweder Irrealität, sofern alle Irrealitäten wesensmäßig auf wirkliche oder mögliche Realität zurückbezogen sind“ (Hua XVII, 177), und „[a]lle begriffliche Wahrheit setzt Erfahrung, jeder Begriffsinhalt setzt erfahrbares Sein voraus, alles Sein setzt individuelles Sein voraus“ (Hua VIII, 408). „Reales“ heißt „individueller Gegenstand“ und ist „wahrnehmbar“ (Hua XVII, 457): Das real Seiende ist ein „Individuelles“, das Substrat möglicher Prädikate, aber nicht selbst Prädikat ist (Hua IX, 101 Anm.; Hua XXXII, 36f.), nämlich ein sinnliches Ganzes, das aus der sachlichen Eigenart der als Teile fungierenden Erscheinungsinhalte hervorgeht und ohne Eingreifen des Subjekts gegeben ist. Die „Substanz“ ist demgemäß weder eine bloße Menge von Qualitäten noch ein jenseits der Erfahrung Liegendes, sondern die „Einheit des Realen“ (Hua XLI, 276).
25Das „ichfremde Individuelle“ ist „bewusst, aber nicht Bewusstsein“, also nicht subjektiv (Hua XIV, 51 und Anm. 2). Denn „für mich ist, was ich selbst nicht bin, aber was ich in meinem Sein […] bewusst habe als Nicht-Ich“ (Hua Mat VIII, 361). Das Nicht-Ich – das ein „Ungeistiges“ darstellt (Hua XIII, 92) – ist demnach der „nichtsubjektive Kern“ der Konstitution (Hua Mat VIII, 361) und das transzendentale Ich bildet „ein Relatives, eine ichliche Struktur gegenüber dem, was dem Ich vorgegeben ist“ (ebd. 59), d.h. gegenüber dem Ichfremden (Ms. E III 2/22a). Das Ichfremde besteht aus dem „Inhaltliche[n]“ (Hua Mat VIII, 351), nämlich aus sinnlichen Daten in sinnlichen Feldern (ebd. 295; Hua XXXIX, 432) und ist „ein nicht-ichliches, ein sachliches Wahrnehmungsfeld“ (Hua XLII, 54).
4. Transzendentale Ästhetik
26Husserl zufolge besteht eine „Abstufung: ,bloße Natur‘ und ,von mir allein herstammende Kultur‘“ (Hua XXXIX, 30), weshalb jede Kulturwelt auf eine „kulturlose“ und „von objektivem Geist freie“ Welt (ebd. 28), d.h. auf „eine Schicht bloßer Natur“ (Hua Mat IX, 182) zurückweist, die „unmittelbar“ erscheint:
Das mir unmittelbar perzeptiv Erscheinende fundiert dann die Perzeption des Mittelbaren, die eben mittelbare, fundierte Perzeption ist. Das Universum der Objekte, die mir schlechthin als unmittelbar erfahrbar […] gegeben sind und so gegeben sein müssen, ist die Natur. Schon Wertcharaktere, teleologisch-praktische Charaktere, die sie von mir allein erhalten hat, sind mittelbar (Hua XXXIX, 30).
27Kulturelle Bestimmungen stehen in außerwesentlicher Beziehung zum Ding, da im Gegensatz zu den sich passiv konstituierenden naturalen Erscheinungsweisen die Bedeutung als Werkzeug, Kunstgebilde usw. „eine rein geistig-personale Leistung“ ist (ebd. 277). Kulturobjekte entstammen gerade einem subjektiven Schaffen und sind auf eine personale Gemeinschaft bezogen: „Die Subjektbeziehung gehört zu ihrem eigenwesentlichen Inhalt selbst“, während ein Ding „in seinem Erfahrungsgehalt selbst, in seinem gegenständlichen Sinn selbst nichts von einer darauf bezogenen Subjektivität“ birgt (Hua IX, 118).
28Anders als die Kulturwelt, die nur bedingt zugänglich ist und eine beschränkte Objektivität besitzt (Hua I, 160-162), ist Natur „das in unbedingter Allgemeinheit für jedermann Zugängliche, das unbedingt Gemeinsame, das identisch schon Erfahrbare, das, was für einen allgemeinen Ausdruck der Geistigkeit Voraussetzung ist“ (Hua Mat VIII, 401 Anm. 2). Da also die Gegebenheit geistiger Sinne nur durch Verkörperlichung in einem materiellen Gegenstand möglich, mithin auf der Gegebenheit physischer Körper fundiert ist (Hua XVII, 163, 294; Hua XXXVII, 218f.), ist die „Dingwelt gegenüber der Kulturwelt das an sich Frühere“ (Hua IX, 119). Was Bedeutung hat, ist nämlich ein sinnlicher Inhalt, der dank seiner ästhetischen Struktur in der Erfahrung identifizierbar ist (Hua XXXIV, 261; Hua XXXIX, 324). Während geistige Bedeutungen nur aufgrund materieller Dinge gegeben sein können, können letztere gegeben sein, auch wenn sie keine geistige Bedeutung aufweisen. Denn wir nehmen manchmal Dinge wahr, die keine Bedeutung für uns haben und bloß als Raumdinge klassifizierbar sind. Deshalb „liegt schließlich die materielle Realität allen anderen Realitäten zugrunde“ (Hua III, 354). Sie ist die Sinnenwelt oder körperliche Natur, die den Bereich der Vorgegebenheit bildet.
29In der Erfahrung liegt demnach ein für jedermann identischer sinnlicher Inhaltskern, d.h. ein „unbedingt Objektives“ (Hua XXXIX, 295), über das hinaus je nach den Sondergemeinschaften wechselnde kulturelle Bestimmungen bestehen, die „das relativ Objektive“ bilden (ebd. 297). Denn selbst für den „Zulu“ sind die Bücher als Dinge da und es ist dieselbe Sonne, die verschieden mythologisiert wird (ebd. 692; Hua XXIX, 387). Was die Identifikation ermöglicht und der Welt „ihre Identität und Wirklichkeit gegenüber den wechselnden Weisen der Apperzeption“ gibt (Hua XV, 167), ist die „,ästhetische‘ Wesensform“ (Hua XXXIX, 685), d.h. diejenige „absolut identische objektive Struktur“, die als „Unterschicht aller Realitäten“ fungiert (ebd. 297f.).
30Husserl bezeichnet die „notwendige eidetische Struktur einer Umwelt überhaupt“ oder „Identitätsstruktur“ aller verschiedenen Umwelten als „natürlichen Weltbegriff“ (ebd. 259; Hua IX, 496). Seine Idee einer transzendentalen Ästhetik stammt gerade aus Avenarius’ Gedanken einer Entfaltung des natürlichen Weltbegriffs und einer Kritik der reinen Erfahrung:13 Da alle Theorien sich auf die vor aller Theorie gegebene Welt beziehen und einen berechtigten Sinn nur haben können, wenn sie den Sinn der unmittelbaren Gegebenheit nicht verletzen, gilt es, „die Welt zu beschreiben, so wie sie sich mir unmittelbar gibt bzw. die Erfahrung zu beschreiben hinsichtlich des Erfahrenen als solchen“, um den „allgemeinen Sinnesrahmen der Welt in unmittelbarer Erfahrung“ herauszustellen, den die Erfahrung vorschreibt und keine Theorie preisgeben darf (Hua XIII, 196f.). „Reine Erfahrung“ ist erreichbar eben durch Ausschluss aller „Metaphysik“, d.h. aller „Suppositionen, die sich nicht an den grundlegenden Sinn der natürlichen Weltthesis oder an den Sinn der Erfahrung halten“: „Ziehen wir alle Gedanken ab […] und halten uns an die erfahrene Welt rein als erfahrene, so können wir den reinen Erfahrungssinn in allgemeinen Begriffen originaliter umschreiben“ (ebd. 135 und Anm. 1). Es geht also um das, was vor aller Theorie liegt und ohne was keine Theorie einen Sinn haben kann (Hua III, 45; Hua XXXV, 476) — in Avenarius’ Sprache: um „das Vorgefundene“ (Hua XIII, 196-199).
31Die transzendentale Ästhetik – die Husserl auch als „Ontologie einer erfahrenen Natur überhaupt“ (Hua XXXIX, 268) sowie als „Wesenslehre“ oder „Ontologie der Lebenswelt rein als Erfahrungswelt“ (Hua VI, 144, 176) bezeichnet – betrifft das „Erfahren vor allem begrifflichen Denken“ (Hua XXXII, 233), also nicht den Geist, d.h. die Tätigkeiten des Subjekts und ihre Produkte, sondern die passive Konstitution einer Natur „vor den kategorialen Aktionen“ (Hua XVII, 297), d.h. das vor dem Eingreifen des Subjekts unmittelbar Gegebene. Ihre Aufgabe — die als „das Erste“ gilt — ist, „das durch alle subjektiven Gegebenheitsweisen hindurch zu erhaltende gegenständlich Identische, das Ontische in seiner ont<ischen> Wesensart, wie es in der Erfahrung selbst beschlossen ist, herauszustellen“ (Hua XLI, 346). In der transzendentalen Ästhetik wird demzufolge eine Beschränkung auf Körperwahrnehmung durch Ausschluss des urteilsmäßigen Wissens und der Kulturwelt vollzogen (Hua XI, 295; Hua XXXIX, 268): Das Erfahren einerseits und das denkmäßige Bestimmen und das Tun andererseits werden gegenübergestellt, um die Welt „rein als erfahrene“, oder genauer die „Erfahrungsgestalt einer Welt überhaupt“ herauszufassen, die „notwendig überall voranliegt, zugrunde liegt, wenn überhaupt die Subjektivität dazu übergeht, über die von ihr erfahrene sich Gedanken zu machen, sie so oder so zu interpretieren“ (Hua XXXIX, 260). Man muss daher auseinanderhalten, „was Aktivität jeweils voraussetzt und was sie neu leistet“ (Hua XLII, 64) bzw. „was Sache der Vorgegebenheit und was Sache der Ichbeteiligung ist“ (Ms. A VII 13/101b), um die subjektiven Zutaten, d.h. „das Moment des Begrifflichen“ (Hua XXIV, 319) abzuziehen und das ohne Eingreifen des Subjekts Gegebene herauszupräparieren. Denn obwohl das Erfahrene nur durch Gedanken beschreibbar ist und ihm Niederschläge von Denktätigkeiten anhaften können, kann man immer zwischen dem sinnlich Erfahrenen und der daran geübten Denktätigkeit sowie den darin sich bildenden Gedanken unterscheiden (Hua IX, 57f.). Erfahren werden nicht die aktiv geschaffenen Denkgebilde, sondern das passiv Vorgegebene und rezeptiv Erfassbare.
Z.B. ein prädikatives Gebilde „Gold ist gelb“ ist nicht erfahren, aber das Gold ist eventuell erfahren und ebenso das Gelb. Nicht mehr: Gelb als Prädikat des Subjekts „Gold“, die Subjektformung und Prädikatformung vollzieht das urteilende, beziehende Denken, in dem allein auch das Ist, der Ist-Verhalt, der „Sachverhalt“ entspringt (ebd. 95f.; vgl. Hua XXIV, 318f.).
32Der Sachverhalt — wie alle Denkgebilde — ist nämlich „eine Wirkgestalt des Ich“ (Hua IX, 210 Anm. 1).
33Solcher Ansatz liegt bereits Husserls frühen Raumanalysen zugrunde, wo es heißt, dass wir zwar den anschaulichen Raum „eo ipso in Begriff und Urteil“ fassen, wenn wir von ihm sprechen und ihn zum Objekt wissenschaftlicher Betrachtung machen (Hua XXI, 273), dass wir aber die begrifflichen Bestimmungen des geometrischen Raums mit den anschaulichen Bestimmungen des außerwissenschaftlichen Raumes vergleichen können, weshalb „der vermittelnde Gedanke (die Beschreibung) und die Anschauung selbst (das Beschriebene), die als das, was sie ist, durch jene begrifflichen Bearbeitungen nicht tangiert wird und tangiert werden soll“, zu unterscheiden sind (ebd. 274).
5. Logisches und Reales
34Freilich ist die Deskription des in vorbegrifflicher Erfahrung Vorgefundenen nur durch Begriffe vollziehbar, es geht jedoch um sinnliche oder sachhaltige Begriffe, die aus der Erfahrung selbst geschöpft und in ihr erfassbar sind (Hua XLI, 59; Hua XXXII, 197f.). Logische Begriffe kommen dabei bloß als formale Bestände des Denkens über das Vorgefundene vor und bezeichnen keine sachlichen Bestände von letzterem. Obwohl das, was in den Dingen liegt, durch das Denken erfasst wird, ist es von dem, was bloß im Denken ist, zu unterscheiden, wie Aristoteles lehrt.14
35Als „Prädikate von allem“ (HW VI, 36), d.h. universale Bestimmungen, die jedwedem Gegenstand zukommen, insofern er gedacht wird, gehören logische Kategorien eigentlich nicht zum Gegenstand, sondern zum ihn denkenden Subjekt und haben keine ontologische Tragweite. Dass wir etwas durch logische Formen denken, sagt nichts über dessen sachliche Wesenseigenart, weil wir alles durch logische Formen denken.
36Wo die Wirklichkeit in logische Begriffe und Bestimmungen aufgelöst wird, wie das bei Hegel der Fall ist, dort besteht keine Erkenntnis, sondern eine Verfälschung oder Verschleierung der Wirklichkeit, wie Feuerbach und Marx hervorgehoben haben. Denn die logisch-metaphysischen Bestimmungen — „welche keinen Gegenstand bestimmen, weil sie sich auf alle Gegenstände ohne Unterschied erstrecken“ — gewähren keine wirkliche Erkenntnis und können nur dadurch zu Bestimmungen der wirklichen Dinge gemacht werden, „dass entweder mit den logisch-metaphysischen Bestimmungen immer zugleich konkrete, aus dem Gegenstand selbst geschöpfte, darum treffende Bestimmungen verbunden werden, oder der Gegenstand auf ganz abstrakte Bestimmungen, in welchen er gar nicht mehr erkenntlich ist, reduziert wird“ (GW IX, 332f.). Da Hegel zufolge das Begreifen bloß darin besteht, „die Bestimmungen des logischen Begriffs überall wiederzuerkennen“ (MEW I, 296) oder „die ,logische Idee‘ in jedem Element […] wiederzufinden“, macht er die wirklichen Subjekte „zu ihren bloßen Namen“, anstatt sie „in ihrem spezifischen Wesen“ zu begreifen, weshalb „nur der Schein eines wirklichen Erkennens vorhanden ist“ (ebd. 211).15 Das Reale wird zu abstrakten Gedanken und Bestimmungen verflüchtigt (ebd. 216; MEW XIII, 632).16 Es geht daher nur um „die abstrakte, inhaltslose Form“, deren „Inhalt bloß ein formeller, durch die Abstraktion von allem Inhalt erzeugter Inhalt sein“ kann, also nur um „die allgemeinen, abstrakten, jedem Inhalt angehörigen, darum auch sowohl gegen allen Inhalt gleichgültigen Abstraktionsformen“ (MEW Ergbd. I, 584).
37Da das spezifische Wesen der realen Gegenstände sinnlich ist, liefert ihre Auflösung in Denkbestimmungen und logische Begriffe kein Erkennen oder Begreifen derselben. Das Reale kann nur aus der Anschauung gezogen werden (Hua XXXII, 120). Wie Hegel bemerkt, kann der Begriff, den der Gedanke sich von Dingen zu machen sucht, nicht aus Bestimmungen und Verhältnissen bestehen, die „den Dingen fremd und äußerlich sind“ (E, § 24 A). Aus Bestimmungen und Verhältnissen, die den sinnlichen Dingen nicht fremd und äußerlich sind, bestehen jedoch lediglich die sinnlichen Begriffe, die aus der Erfahrung stammen. Formale Begriffe, die aus dem Denken stammen, bilden nämlich „eine der Sache äußerliche Reflexion“ (HW VI, 271) und sind „nur subjektiv“ (E, § 194 Z 1).
38Im Gegensatz zur sinnlichen Form, die „notwendig da und reell da mit den sinnlich durch sie vereinigten Inhalten“ ist, gehören die Denkformen „nicht unabtrennbar zu den sinnlichen Inhalten, als ob sie mit diesen schon eo ipso da wären, spontan!“ (Hua XXIV, 292). Insofern also den Dingen die logischen Denkformen äußerlich und die sinnlichen Formen wesentlich sind, gelten nur diese als „ontologische[] Formen“ (ebd. 293). Die logischen Formen bilden keine sachlichen Formen des Realen, sondern Zutaten der subjektiven Denktätigkeit und gehören nicht zum Gegenstand, so wie er in der Erfahrung gegeben ist, sondern nur so, wie er durch logische Urteilsformen gedacht wird (Hua XIX, 666, 687; Hua XVII, 398, 405f.). Mittels der logischen Denkformung erhält nämlich der reale Gegenstand eine nichtsinnliche Form, aber weder wird er in seinem eigenen Sein, d.h. in seinem sinnlichen Gehalt geändert noch wird ein neuer realer Gegenstand geschaffen (Hua XIX, 686f., 715f.). Da also das Logische die sachliche Struktur der gegebenen Realität nicht antastet, hat es keine reale Bedeutung (ebd. 729; Hua XVII, 152).17 Logische Gesetze sind bloß „Gesetze für Gegenstände überhaupt, sofern sie als durch bloße Kategorien bestimmt gedacht sind“ (Hua XIX, 101), und betreffen nur das, „was für Gegenständliches überhaupt vermöge der reinen ,Denkform‘ gilt, d.i. was sich für die objektive Geltung der Bedeutungen a priori aller Materie der bedeuteten Gegenständlichkeit auf Grund der reinen Bedeutungsform, in der sie gedacht sind, aussagen lässt“ (ebd. 344). Sie sagen nichts über das Reale aus, da sie nur „triviale Allgemeinheiten“ sind, gegen die eine Behauptung bloß darum nicht streiten darf, weil sie sonst widersinnig wäre, weshalb die Harmonie des Denkens mit ihnen nur dessen formale Einstimmigkeit verbürgt (Hua XVIII, 145f.). Sie bilden demnach bloß negative Bedingungen der Wahrheit (Husserl 1972, 8): Soll ein (nicht analytisches) Urteil wahr sein können, so darf es die logischen Gesetze nicht verletzen, aber damit, dass es das nicht tun, ist es noch nicht wahr (Hua XXIV, 331).
39Gerade weil in der Logik das Denken rein, d.h. „von aller sinnlichen Konkretion befreit“ ist (HW V, 55) und „sich selbst auf autonomische Weise“ als Inhalt hat (HW IV, 162), hat das Logische keine ontologische Tragweite, obwohl es formal unhintergehbar ist. Denn die Welt verdankt ihre ontologische Struktur nicht universalen logischen Formen, sondern sachhaltig bestimmten sinnlichen Formen, die in der Wesenseigenart der sinnlichen Wasgehalte gründen. Insofern die sachliche Wesensstruktur der Realität sinnlich ist, kann sie nicht durch reine oder logische Begriffe, sondern nur durch sinnliche oder materiale Begriffe erfasst werden, deren Inhalt nur durch Anschauung kenntlich ist. Solche Begriffe sind kontingent oder zufällig, mithin a posteriori, da sie durch die irrationale, d.h. auf apriorische Gesetze nicht zurückführbare Beschaffenheit des Gegebenen gebunden und somit verunreinigt sind.18 Darum haben sie ontologische Tragweite.
6. Positivismus des Sinnlichen und Positivismus des Intelligiblen
40Husserls Ansatz ist ein Positivismus des Sinnlichen, da er das Positive oder Reale ins Gegebene und Erfahrbare setzt. Die einzige Alternative zu solchem Ansatz ist der Positivismus des Intelligiblen, der das Positive oder Reale ins Gedachte und Unerfahrbare setzt.
41Der geläufige Gegensatz von Positivismus und Antipositivismus ist abwegig, weil die Frage nicht ist, ob der Ontologie ein Positives, d.h. ein bloß festzustellendes Ursprüngliches und Unableitbares zugrunde gelegt wird. Das ist zwangsläufig.19 Die Frage ist vielmehr, was für ein Positives der Ontologie zugrunde gelegt wird, und zwar ob das Intelligible bzw. Gedachte (Denkkorrelat oder Gedankending) oder das Sinnliche bzw. Gegebene (Erfahrungskorrelat oder Sinnending) als das Positive gilt. Denn die Frage nach dem, was das Reale oder wahre Sein ist, ist mit der Frage nach dem, was das Positive ist, äquivalent und die Antwort lautet: entweder die unkörperlichen, unwahrnehmbaren und nur denkbaren Ideen oder das Körperliche und durch den Körper Wahrnehmbare, wie Platon andeutet (Soph., 245e–249d; Tim., 51b-52a; Phaed., 79a; Resp. 509d). Als das Reale kann auch nach Hegel entweder „das Gedachte und de[r] Begriff“ oder „der gegebene Stoff der Anschauung und das Mannigfaltige der Vorstellung“ (HW VI, 259), entweder „die Idealität“ oder „das unmittelbare, äußere Dasein“ (E, § 91 Z), entweder „der Gedanke“ oder das „Gegebene[]“, d.h. das dem Denken „Heteronomische“ (HW IV, 162) gelten. Im ersten Fall haben wir den Idealismus, wonach die Gedanken „das wahrhaft Selbständige und Primitive“ sind, während „das sinnlich Wahrnehmbare das eigentlich Unselbständige und Sekundäre“ darstellt (E, § 41 Z 2), im zweiten Fall den Realismus, der Sinnendinge als das wahrhaft Selbständige ansieht und nichts als der Empirismus ist.20 Denn der „Idealismus“ schreibt „den Ideen allein Realität“ zu, „indem er behauptet, dass die Dinge, wie sie in der Einzelheit erscheinen, nicht ein Wahrhaftes sind“, der „Realismus“ behauptet hingegen, dass „die Dinge, wie sie unmittelbar sind, eine wirkliche Existenz haben“ (HW XIX, 571f.). Demgemäß lässt dieser die Objektivität des Gedankens „aus den Wahrnehmungen entstehen“, während jener „von der Selbständigkeit des Denkens ausgeht“ (HW XX, 66). Während der Realismus ein Positivismus des sinnlich Gegebenen ist, ist der Idealismus ein Positivismus der intelligiblen Idee, da nach ihm das Gegebene ein Ideelles oder Scheinbares und „der Begriff, die Idee, der Geist“ (HW V, 172) ein Reales oder Positives ist. Er besteht eben darin, „das Endliche nicht als ein wahrhaft Seiendes anzuerkennen“ und es als „ideell“ anzusehen (ebd.; vgl. E, § 95 A). Endliche Dinge sind ideell, nicht-real und negativ, insofern sie keine ontologische Selbständigkeit haben und ihre Existenz von der Realität der Idee abhängt, die allein absolut selbständig ist.21
42Solches Entweder-oder hat Marx eingesehen, der bemerkt, dass Feuerbach „der Negation der Negation, die das absolut Positive zu sein behauptet, das auf sich selbst ruhende und positiv auf sich selbst begründete Positive“, d.h. „die sinnlich gewisse, auf sich selbst gegründete Position entgegenstellt“ (MEW Ergbd. I, 570). Hegel stellt die Idee als das Positive hin, während das Positive das Sinnliche ist.22
43Den Ideenpositivismus vertritt schon Platon, der die Ideen als das wahrhaft Seiende betrachtet (Soph., 246b, 248a; Phaedr., 247c, 247e, 249c; Phaed., 77a). „Sie sind, und sie sind allein das Sein“ (HW XIX, 41). Platon beansprucht, objektive Konstatierungen über das Intelligible auszudrücken, das er als ein Tatsächliches und Gegebenes höherer Ordnung behandelt: Wir sehen Ideen mit dem „Auge der Seele“ (Resp., 533d), also mit dem „Gesicht der Seele“ oder „des Intellekts“ (ebd. 519b; Symp., 219a), genauso wie wir sinnliche Gegenstände mit dem Auge des Leibes sehen (Resp., 518c).
44Selbst Hegels Idealismus, der als Modellfall des Antipositivismus gilt, liegt die Annahme zugrunde, dass der Gedanke die „wahrhafte Wirklichkeit“ bildet (HW IV, 162), ja dass „nichts wirklich ist als die Idee“ (HW VII, 25) oder „das Geistige“ (HW III, 28), während sinnliche Dinge „bloße Erscheinungen“ darstellen, die „den Grund ihres Seins nicht in sich selbst, sondern in der allgemeinen göttlichen Idee“ haben (E, § 45 Z). Solcher Idealismus beruht auf der schon von der Religion vorausgesetzten Ablehnung der Ansicht, wonach der gegebene Anschauungsstoff das Reale ist (HW VI, 259), und liegt allem religiösen Bewusstsein zugrunde, weil „auch dieses den Inbegriff alles dessen, was da ist, überhaupt die vorhandene Welt, als von Gott erschaffen und regiert betrachtet“ (E, § 45 Z). Nach Hegel — genauso wie nach der Religion — ist die Welt „nur ein Ideelles“ oder „Erschaffenes“ (HW XVII, 243), „ein bloßer Schein und eine härtere Täuschung“ (HW XIII, 22), mithin „das Nichtige“, da die absolute Wahrheit „jenseits jener Erscheinung nur in Gott ist, Gott nur das wahrhafte Sein ist“ (E, § 50 A). Demzufolge ist Philosophie „Erkenntnis des Nichtweltlichen“ (HW XVI, 28), hat „keinen anderen Gegenstand als Gott, und ist so wesentlich rationelle Theologie“ oder „Gottesdienst“ (HW XIII, 139).
45Dieser Ansatz charakterisiert den ganzen deutschen Idealismus. Fichte zufolge ist Sinnlichkeit „nur Versinnlichung, nichts ursprüngliches“ (GA IV/2, 172) und die Sinnenwelt nur „ein Bild, das durchaus nichts weiter bedeutet, und gar keinen andern Zweck hat, als damit es zum einzigen wahren Bilde, das einen Gehalt hat, zum Bilde Gottes im Gesichte komme“ (GA I/10, 384; vgl. GA I/6, 311).23 Denn Welt und Dinge sind „lediglich im Begriffe, in Johannes’ Worte, und als begriffene, und bewusste, — als Gottes Sich-Aussprechen Seiner selbst, — da“ und der Begriff oder das Wort ist „der Schöpfer der Welt überhaupt“ (GA I/9, 119). Außer Gott ist gar nichts wahrhaftig da (ebd. 93; GA I/8, 32) und der Idealismus ist „Nihilismus“, d.h. „strenge Nachweisung des absoluten Nichts, außer dem Einen unsichtbaren Leben, Gott genannt“ (GA II/17, 266f.). Schelling bringt den Positivismus des Intelligiblen zu plastischem Ausdruck. Denn er bestimmt die „Idealität“ als „das Entgegengesetzte der sinnlichen Realität“, den „Idealismus“ als „eine Lehre […], die die Realität der Sinnenwelt leugnet“ (SW III, 222), und „das wahre Universum“ als „das intelligible“ und „nur mit dem Verstande zu erkennende Universum“, das im Gegensatz zum „bloß materiellen und sinnlich anzuschauenden“ Universum steht (SW V, 379). Er erklärt zudem, „das Positive“ sei das, was in der Natur „eigentlich ist“ (SW III, 695), „das Positive des Vielen“ sei „Eines“ (ebd. 655) und Philosophie sei „Wissenschaft des Göttlichen als des allein-Positiven“ oder „allein-Wirklichen in der wirklichen oder Natur-Welt“ (ebd. 624).24
46Als Inhalt und Element der Philosophie gilt Hegel „das Wirkliche, Sichselbstsetzende und Insichlebende, das Dasein in seinem Begriffe. Es ist der Prozess, der sich seine Momente erzeugt und durchläuft, und diese ganze Bewegung macht das Positive und seine Wahrheit aus“ (HW III, 46). Er hält die Idee und ihre immanente Entwicklung für ein Positives oder objektiv Feststellbares, das unabhängig vom Subjekt besteht und dem nur zuzusehen ist.
Die höhere Dialektik des Begriffes ist, die Bestimmung nicht bloß als Schranke und Gegenteil, sondern aus ihr den positiven Inhalt und Resultat hervorzubringen und aufzufassen, als wodurch sie allein Entwicklung und immanentes Fortschreiten ist. Diese Dialektik ist dann nicht äußeres Thun eines subjektiven Denkens, sondern die eigene Seele des Inhalts, die organisch ihre Zweige und Früchte hervortreibt. Dieser Entwicklung der Idee als eigener Tätigkeit ihrer Vernunft sieht das Denken als subjektives, ohne seinerseits eine Zutat hinzuzufügen, nur zu (HW VII, § 31 A).
47Da die Idealisierung der Natur nicht bloß durch uns, sondern durch die ihr innewohnende Idee vollzogen wird, hat die Philosophie „gewissermaßen nur zuzusehen, wie die Natur selber ihre Äußerlichkeit aufhebt“ (E, § 381 Z). Der Gegenstand wird „vom Begriff bewegt[]“ und „wir sehen der eigenen Entwicklung des Gegenstandes gleichsam nur zu, verändern dieselbe nicht durch Einmischung unserer subjektiven Vorstellungen und Einfälle“ (E, § 379 Z).
48Demnach ist der Begriff „alles“ und seine Selbstbewegung bildet „die schlechthin unendliche Kraft, welcher kein Objekt, insofern es sich als ein äußerliches, der Vernunft fernes und von ihr unabhängiges präsentiert, Widerstand leisten, gegen sie von einer besonderen Natur sein, und von ihr nicht durchgedrungen werden könnte“ (HW VI, 551). Die Bewegung des Begriffs ist allerdings „nur als ein Spiel zu betrachten; das Andere, was durch dieselbe gesetzt wird, ist in der Tat nicht ein Anderes“ (E, § 161 Z). Denn „die Wahrheit ist das Positive als das mit dem Objekte übereinstimmende Wissen, aber sie ist nur diese Gleichheit mit sich, insofern das Wissen sich negativ gegen das Andere verhalten, das Objekt durchdrungen und die Negation, die es ist, aufgehoben hat“ (HW VI, 72). Wie Adorno bemerkt, ist ein durch die Gleichheit mit sich bzw. reine Identität gekennzeichnetes Wissen des Objekts Gaukelei, da es kein Wissen des Objekts, sondern die Tautologie einer nóesis noéseos ist (GS VI, 163). Marx hat hervorgehoben, dass bei Hegel der Gegenstand bloß eine „Selbstentäußerung“ des Wissens und somit „nur der Schein eines Gegenstandes, ein vorgemachter Dunst“ ist, weil er „das Wissen selbst [ist], welches sich sich selbst entgegengestellt und daher sich eine Nichtigkeit entgegengestellt hat“, also weil das Wissen, „indem es sich zu einem Gegenstand verhält, nur außer sich ist“ und „das, was ihm als Gegenstand erscheint, nur es selbst ist“ (MEW Ergbd. I, 580).
49Feuerbach stürzt den Idealismus dadurch um, dass er „das absolute Wesen als sinnliches Wesen, das sinnliche Wesen als absolutes Wesen“ versteht (GW IX, 431), indem er „das Reale, das Sinnliche zum Subjekt seiner selbst“ macht und „demselben absolut selbstständige, göttliche, primative, nicht erst von der Idee abgeleitete Bedeutung“ gibt (ebd. 315). Als wirklich gelten nur sinnliche, individuelle, endliche Dinge (ebd. 441; GW VI, 147; GW V, 50), weshalb Empfindungen eine ontologische, und nicht bloß empirische oder anthropologische Bedeutung haben (GW IX, 318).
Das Wirkliche in seiner Wirklichkeit oder als Wirkliches ist das Wirkliche als Objekt des Sinnes, ist das Sinnliche. Wahrheit, Wirklichkeit, Sinnlichkeit sind identisch. Nur ein sinnliches Wesen ist ein wahres, ein wirkliches Wesen. […] Nur durch die Sinne wird ein Gegenstand im wahren Sinne gegeben — nicht durch das Denken für sich selbst. Das mit dem Denken gegebne oder identische Objekt ist nur Gedanke (ebd. 316).
50Sinnlichkeit hat insofern einen Vorzug, als sie „ein vom Denken unterschiedenes Element“ ist (GW VI, 19) und aus ihm nicht entnommen werden kann. Denn das Sinnliche ist „das Erste“, aber nicht „im Sinne der spekulativen Philosophie, wo das Erste das bedeutet, worüber hinausgegangen werden muss“, sondern „im Sinne des Unableitbaren, des durch sich selbst Bestehenden und Wahren“ (ebd. 100). Man kann nämlich weder das Sinnliche aus dem Geistigen, das nichts ohne das Sinnliche ist, noch die Sinne aus der Vernunft ableiten, weil die Vernunft die Sinne voraussetzt, aber nicht umgekehrt, denn den Tieren sprechen wir die Vernunft, aber nicht die Sinne ab. Die Sinne sind „die bleibende Grundlage, auch wo sie in den Abstraktionen der Vernunft verschwinden“ (ebd.). Demnach gilt Sinnlichkeit als „die ultima ratio, die summa summarum“ und die Lehre von den Sinnen als „die Lehre von den letzten Dingen, wo alle Geheimnisse offenbar werden“ (GW X, 138). „Die tiefsten Geheimnisse liegen in den einfachsten natürlichen Dingen, die der jenseits schmachtende phantastische Spekulant mit Füßen tritt. Die Rückkehr zur Natur ist allein die Quelle des Heils“ (GW IX, 61). Als unentstandenes, ursprüngliches und unableitbares Wesen (GW VI, 28f., 102) ist Natur ein „Unmittelbares“ (ebd. 103), nämlich „alles, was du siehst und <was> nicht von menschlichen Händen und Gedanken herrührt“ (ebd. 105), und bildet den letzten unbegründeten Grund von allem (GW V, 171; GW X, 61).25
51Der Vorläufer des Positivismus der Idee ist Parmenides, der Vorläufer des Positivismus des Gegebenen Aristoteles. Aristoteles vertritt die These, dass wenn eine bestimmte Wahrnehmung ausbleibt, notwendig auch ein bestimmtes Wissen ausbleibt, welches unmöglich zu erwerben ist (An. Post., 81a 38), sowie den von Hegel bekämpften Realismus, wonach nur erste Substanzen, d.h. Einzeldinge selbständig existieren, und meint, dass ein Allgemeines nur dann besteht, wenn Individuen bestehen, die unter es fallen, denn „wenn alles weiß ist, so wird Weiße sein, Schwärze dagegen nicht“ (Cat., 14a 9-10). Er stigmatisiert zudem diejenigen, die „die Beweise nicht aus den Phänomenen, sondern eher aus theoretischen Erwägungen zusammensuchen“ (De caelo, 293a 29-30), und die, wenn sie über die Phänomene sprechen, Dinge behaupten, die mit ihnen nicht übereinstimmen, während „die Prinzipien der wahrnehmbaren Dinge wahrnehmbar sein müssen“ (ebd. 306a 6-14). Gegen die von Hegel gelobten eleatischen Denker, die „die Wahrnehmung überschreitend und vorbeisehend an ihr“ behaupten, das All sei nur Eines und unbewegt, bemerkt Aristoteles, dass dies „zwar der logischen Gedankenführung nach zu folgen scheint, es aber in Beziehung auf die Dinge dem Wahnsinn nahesteht, solcher Ansicht zu sein“ (De gener. et corr., 325a 13-20). „Die Behauptung ,Alles ruht‘ und die Suche nach einer Erklärung dafür, indem man alle Wahrnehmungen fahren lässt, das ist eine Art Gehirnerweichung“ (Phys., 253a 31-34).
7. Die Frage nach dem sinnlich Gegebenen
52Nach Maimons Bestimmung ist das Gegebene das, dessen Grund „nicht im Erkenntnisvermögen, sondern außer demselben anzutreffen ist“ und dessen Entstehungsart „sich nicht nach allgemeinen Gesetzen des Erkenntnisvermögens aus demselben erklären lässt“ (Maimon 1794, 203), weshalb das Erkenntnisvermögen „sich dabei bloß leidend verhält“ (Maimon 1790, 13).
53Wie C. I. Lewis bemerkt, hat die Rede von Erkenntnis nur insofern Sinn, als der Erkenntnisinhalt unabhängig vom Geist besteht, da Erkenntnis etwas erstrebt, das jenseits ihrer selbst liegt und von dem sie weiß, dass sie es verfehlen könnte. Indem er einen Einwand von Krug (1801, 31-33, 74) gegen Schelling sachlich übernimmt, betont er, eine Grundschwierigkeit des Idealismus liege darin, dass dieser den besonderen Inhalt der Erfahrung und Erkenntnis nicht deduzieren kann. Wenn nämlich alle Bedingungen der Erfahrung und Wirklichkeit dem Geist einwohnen würden, mithin nichts außerhalb des Geistes das (mit)bestimmen könnte, was der Geist erkennt, dann —wenn erst einmal der Geist festgelegt wird — müsste nicht nur die allgemeine Form der Erkenntnis, sondern auch ihr Inhalt in all dessen Besonderheit bestimmt werden, weshalb die Frage beantwortbar wäre, warum ich eben diese Erfahrung habe und eben diese Wirklichkeit vorfinde. Insofern das nicht der Fall ist, ist einzusehen, dass die Besonderheit der Erfahrung ein Letztes und Unerklärbares ist und dass das Gegebene eine vom Geist unabhängige Bedingung der Wirklichkeit bildet (Lewis 1929, 189-194). Das Gegebene ist gerade das, was wir durch Denken nicht schaffen, beseitigen und verändern können (ebd. 48-52). Bezüglich der Erfahrung eines Füllers schreibt Lewis:
the given […] is what remains unaltered, no matter what our interests, no matter how we think or conceive. I can apprehend this thing as pen or rubber or cylinder, but I cannot, by taking thought, discover it as paper or soft or cubical. […] no one but a philosopher could for a moment deny this immediate presence in consciousness of that which no activity of thought can create or alter (ebd. 52f.).
54Lewis hebt zudem hervor, dass das Gegebene unabhängig von unserer Denktätigkeit gegliedert ist:
Experience, when it comes, contains within it just those disjunctions which, when they are made explicit by our attention, mark the boundaries of events, „experiences“ and things. The manner in which a field of vision or a duration breaks into parts reflects our interested attitudes, but attention cannot mark disjunctions in an undifferentiated field. […] That the rug is on the floor or the thunder follows the flash, is as much given as the color of the rag or the loudness of the crash (ebd. 59).26
55Die Unabhängigkeit der Wirklichkeit vom Denken besagt also: 1) Die Gegebenheit des Gegebenen, die einen sinnlichen Charakter hat und durch Denktätigkeit nicht geschaffen oder verändert werden kann; 2) Die Wahrheit von wenn-so-Sätzen, in denen man die mögliche Erfahrung aus dem Gegebenen ausdrücken kann. Dabei ist das Wenn auf meine Tätigkeit angewiesen, aber der Inhalt des So und die Wahrheit des ganzen Satzes sind nicht vom Geist bestimmt: Dass meine Vorwegnahmen der Wirklichkeit entsprechen oder nicht, ist unabhängig von meinem Geist bestimmt, sonst wäre es keinesweGS bestimmt; 3) Die Transzendenz der Wirklichkeit gegenüber unserer aktuellen Erkenntnis von ihr: Im Ausgang vom Gegebenen kann ich mit Gewissheit das noch Hinzukommende von etwas voraussehen, dessen besondere Beschaffenheit ich jetzt nicht bestimmen kann (ebd. 193f., 66).
8. Ohnmacht des Begriffs und Unvernünftigkeit des Wirklichen
8.1
56Ist das sinnlich Gegebene ein Schein oder Nichtiges, kann das wahre Sein lediglich ein Denkkonstrukt sein. Wie Jacobi bemerkt, setzt also Erkenntnis voraus, dass „sich ihre Gegenstände durch eine Art Transsubstantiation in mathematische und logische Wesen verwandeln lassen“ (Jacobi 1816, 351), und der Idealismus ist „Nihilismus“ (ebd. 44), insofern er zum „Auflösen[] alles Wesens in Wissen“, d.h. zur „progressive[n] Vernichtung“ der Realität im Denken durch immer allgemeinere Begriffe führt (ebd. 23). Da nämlich die reine Vernunft „nur sich selbst vernimmt“, muss ihr Philosophieren „ein chemischer Prozess sein, wodurch alles außer ihr in Nichts verwandelt wird, und sie allein übrig lässt“: „der Mensch erkennt nur indem er begreift; und er begreift nur indem er — Sache in bloße Gestalt verwandelnd — Gestalt zur Sache, Sache zu Nichts macht“, denn um ein Wesen zu begreifen, „müssen wir es objektiv — als für sich bestehend — in Gedanken aufheben, vernichten, um es durchaus subjektiv, unser eigenes Geschöpf — ein bloßes Schema — werden zu lassen“ (ebd. 19-21). Das Reale, d.h. die vor dem Eingreifen des Subjekts gegebenen Sinnendinge, ist in das Ideale, d.h. in durch Denktätigkeit des Subjekts erzeugte Denkbestimmungen aufzulösen. Denn der Idealismus will „im Idealen das Reale, in den logoi die onta begründen; so in Plato, so in Leibniz, so in Kant, der […] den ganzen Begriff des Gegenstandes aus den Formalbestandteilen der Erkenntnis, aus dem Logischen im vertieftesten Sinne erst aufbaut“ (Natorp 1973, 14).
57Hegel zufolge kommt die wahre Natur des Gegenstandes nur durch eine „Veränderung“ zum Bewusstsein, nämlich durch „unsere subjektive Tätigkeit, welche das unmittelbar Vorhandene umgestaltet“ (E, § 22 und Z). Denn durch „das Negative der Tätigkeit des Geistes“ wird der sinnliche Stoff „vergeistigt und als Sinnliches aufgehoben“ (E, § 442 A; vgl. § 50 A). Zum Geist gehört gerade die „Idealität“ oder „Aufhebung der Äußerlichkeit“ und seine Tätigkeiten sind „Weisen der Zurückführung der Äußerlichkeit zu der Innerlichkeit“, d.h. der Negation, Assimilation und Idealisierung der Äußerlichkeit der Natur: Indem das Ich den ihm gegenüberstehenden mannigfaltigen Stoff erfasst, „wird derselbe von der Allgemeinheit des Ich zugleich vergiftet und verklärt, verliert sein vereinzeltes, selbständiges Bestehen und erhält ein geistiges Dasein“ (E, § 381 Z). Das „Begreifen“ eines Gegenstandes der Anschauung besteht demnach in der Aneignung eines „Äußerliche[n], Fremde[n]“: Das Ich bringt ihn „in seine eigene Form, d.i. in die Allgemeinheit“ und „durchdringt ihn denkend“, weshalb das Anundfürsichsein, das er im Anschauen hat, „in ein Gesetztsein verwandelt“ wird.
Wie er aber im Denken ist, so ist er erst an und für sich; wie er in der Anschauung oder Vorstellung ist, ist er Erscheinung; das Denken hebt seine Unmittelbarkeit, mit der er zunächst vor uns kommt, auf und macht so ein Gesetztsein aus ihm; dies sein Gesetztsein aber ist sein Anundfürsichsein oder seine Objektivität. Diese Objektivität hat der Gegenstand somit im Begriffe (HW VI, 255).
58Das Denken verwandelt die äußeren Gegenstände in Denkgebilde, indem es ihre Selbständigkeit und Andersheit vernichtet. Da also Erkenntnis „Vernichtung der Äußerlichkeit“ (E, § 552 A) oder Auflösung des Gegebenen als des dem Denken Heteronomischen in Denkbestimmungen besagt, ist ihr Muster „das praktische Verhalten, in welchem dieser absolut idealistische Glaube liegt, dass die einzelnen Dinge nichts an sich sind“ und zu „verzehren“ sind, wie das Tiere tun: „Erst wenn man dem Proteus Gewalt antut, d.h. sich an die sinnliche Erscheinung nicht kehrt, wird er gezwungen, die Wahrheit zu sagen“ (E, § 246 Z; vgl. HW III, 91; HW VII, § 44 Z). Denn
Essen und Trinken macht die unorganischen Dinge zu dem, was sie an sich sind. Es ist das bewusstlose Begreifen derselben, und sie werden darum so Aufgehobene, weil sie es an sich sind. […] Das Besondere, Äußerliche hat kein Bestehen für sich, sondern ist ein Nichtiges, sobald es vom Lebendigen berührt wird (E, § 365 Z).
59Die Unmittelbarkeit und das Gegebensein wird durch das Denken aufgehoben, das „wesentlich die Negation eines unmittelbar Vorhandenen“ ist und dasselbe Verhältnis zur Erfahrung hat wie das Essen zum Nahrungsmittel: Genauso wie das Essen besteht das Denken im „Verzehren desjenigen, dem es sich selbst verdanken soll“, und ist ebenso „undankbar“ (E, § 12 A). „Das Denken aber hat nur Gedanken zu seinem Resultat; es verflüchtigt die Form der Realität zur Form des reinen Begriffs“ (HW XV, 244). Es duldet nicht, dass etwas nicht in ihm vernichtet wird. „Gäbe es so etwas, das der Begriff nicht verdauen, nicht auflösen, nicht ideell machen könnte, so stände dies ihm entgegen, entzweite ihn, so läge dies als die höchste Zerrissenheit, Unseligkeit da. Alles also löst der Begriff auf und kann es fort und fort“ (Hegel 1996, 56).
60Wie sich aus den angeführten Stellen ergibt, bestimmt Hegel die Beziehung des Subjekts mit dem Objekt, der Erkenntnis mit dem Gegenstand, des Denkens mit dem Gegebenen, des Geistes mit der Äußerlichkeit, des Begriffs mit der Realität als ein Verändern, Umgestalten, Vergiften, Verklären, Assimilieren, Idealisieren, Verzehren, Essen, Verdauen, Auflösen, Verflüchtigen, Vernichten. Es gilt, die Anschauung in den Begriff, das Mannigfaltige in die Einheit, die Andersheit in die Identität, die Äußerlichkeit in die Innerlichkeit, die Natur in den Geist, das Objekt in das Subjekt, mithin das Gegebene in formale Denkbestimmungen und somit die Wirklichkeit, d.h. das Sinnliche oder Reale in das Denken, d.h. in das Intelligible oder Ideelle aufzulösen. Das dem Denken Heteronomische ist wegzudenken und wirkliche Sinnendinge sind durch eine Art Transsubstantiation zu idealen Gedankendingen zu machen, um alles außer dem Denken in Nichts zu verwandeln und das Denken allein übrigzulassen.
61Hegel teilt also sachlich das, was Willard (2000, 38) als „the ,Midas touch‘ picture of consciousness“ bezeichnet, nämlich „the view that to take something as our ,object‘ automatically transforms it in some essential way (possibly even making it ,mental‘)“. In Übernahme eines Ausdrucks von Sartre (1939) kann man ja Hegels Philosophie als eine „Verdauungsphilosophie“ bezeichnen, insofern sie die Erkenntnis als Verdauung und Vernichtung der Andersheit auffasst.
62Hegel hält die Äußerlichkeit für etwas, „das nicht sein soll“ (MEW Ergbd, I, 588), und beabsichtigt, „die Gegenständlichkeit aufzuheben“ (ebd. 575). Deswegen spricht er dem Gegebenen jede ontologische Bedeutung — indem er es zu Schein oder Nichts herabsetzt und in Denkbestimmungen aufgelöst — und der Wahrnehmung jede epistemische Bedeutung ab. Daraus ergibt sich seine Aversion gegen Empirismus, der „eine Lehre der Unfreiheit“ bildet, da er das Sinnliche für ein Gegebenes hält, während Freiheit nur da ist, wo „ich kein absolut Anderes gegen mich habe, sondern abhänge von einem Inhalt, der ich selbst bin“ (E, § 38 Z), also „wo kein Anderes für mich ist, das ich nicht selbst bin“ (E, § 24 Z 2). Der Mensch verhält sich ganz frei erst in der reinen Form des Denkens (E, § 24 Z 3), weil das Denken nur dann „zum Objekt in einem vollkommen freien Verhältnisse“ steht, wenn es „mit seinem Gegenstande identisch[]“ ist: Dabei hat es nämlich „keinen anderen Inhalt als sich selber, als seine eigenen […] Bestimmungen; es sucht und findet im Gegenstande nur sich selbst“ (E, § 467 Z). Die Freiheit kommt durch Befreiung vom Anderen des Denkens zur Ausführung. Daraus stammt Hegels Würdigung der Lehre der nóesis noéseos, d.h. eines Denkens, das nur sich selbst denkt und kein Anderes oder Äußerliches hat.
63Das Verhältnis des Geistes zur Natur ist dementsprechend auszudenken. Insofern Naturphilosophie bezweckt, eine „Versöhnung des Geistes mit der Natur und der Wirklichkeit“, und zwar dessen „Befreiung von der Natur und ihrer Notwendigkeit“ auszuführen, ist ihre Aufgabe, „ein Bild der Natur zu geben, um diesen Proteus zu bezwingen: in dieser Äußerlichkeit nur den Spiegel unserer selbst zu finden, in der Natur einen freien Reflex des Geistes zu sehen“ (E, § 376 Z). Der Geist versöhnt sich mit der Natur, „indem er in ihr die Idee erkennt, was er selbst in der Form des Selbstbewusstseins ist“ (Hegel 1982, 145). Man soll demgemäß den Gegensatz zwischen mir und der mir widerstrebenden Natur „zur Einheit, die ich selbst bin, zurückführen“ (ebd. 3): Die Natur soll „subjektiv […] werden, indem sie ihre Äußerlichkeit überwindet und als Ideales setzt“ (ebd. 11). Sie ist also objektiv, d.h. als für sich bestehend in Gedanken zu vernichten, um sie subjektiv, d.h. unser eigenes Geschöpf werden zu lassen. Wo ein Objektives war, soll ein Subjektives werden. Der Geist befreit sich dadurch von seinem Anderssein, dass er es auf sich selbst zurückführt:
Der Geist hebt die Natur, oder sein Anderssein auf, indem er erkennt, dass dies sein Anderssein er selbst ist, dass sie nichts anderes ist, als er selbst, gesetzt als ein entgegengesetztes. Durch diese Erkenntnis wird der Geist frei, oder durch diese Befreiung ist erst der Geist; er entreißt sich der Macht der Natur, indem sie aufhört, ein anderes zu sein als er ist […] [bzw.] ein ihm fremdes [zu sein] (Hegel 1998, 370).
64Da also die Natur vom Geist gesetzt ist, der „das absolut Erste“ und „sein eigenes Resultat“ bildet, stellt der Übergang der Natur zum Geist „nur ein Zusichselberkommen des in der Natur außer sich seienden Geistes“ dar:
Der Schein, als ob der Geist durch ein Anderes vermittelt sei, wird vom Geiste selber aufgehoben, da dieser sozusagen die souveräne Undankbarkeit hat, dasjenige, durch welches er vermittelt scheint, aufzuheben, zu mediatisieren, zu einem nur durch ihn Bestehenden herabzusetzen und sich auf diese Weise vollkommen selbständig zu machen (E, § 381 Z).
65Das Andere des Geistes ist demgemäß nur ein Schein, der sich auflöst, sobald der Geist erkennt, dass es nichts anderes als Geist ist. Das Andere ist in der Tat nicht ein Anderes.
66Die Natur bleibt jedoch in ihrer Äußerlichkeit und Andersheit gegenüber dem Geist bestehen, auch nachdem sie subjektiviert und ihre Äußerlichkeit als Ideales oder als Spiegel unserer selbst begriffen worden ist. Denn der Geist setzt die Natur bloß dahingehend, dass er das Bestehen von etwas feststellt, das unabhängig von ihm besteht und das er „nicht in seine eigene Sphäre hineinholen und verändern kann“ (Neuser 2000, 147). Er kann nämlich die Gesetze und Beschaffenheiten der Natur erkennen, aber nicht aus sich selbst entnehmen oder auf sich selbst zurückführen.
67Bei der Natur und der Wirklichkeit geht es nicht um reine Begriffe, sondern „um das Unlogische, um jenes andere, das nicht der Begriff ist, sondern sein Gegenteil, welches den Begriff gleichsam unwillig annimmt“ (Schelling 1972, 225). Hegel selbst erkennt es, indem er behauptet, dass die Natur an den durch den Begriff bestimmten Formen nicht festhalten und kein unabhängiges vernünftiges System darstellen kann, was eine „Schwäche des Begriffs in der Natur überhaupt“ nachweist (E, § 368 A). Natur zeigt „keine Freiheit, sondern Notwendigkeit und Zufälligkeit“, da sie durch die „Unvernunft der Äußerlichkeit“ ausgezeichnet ist (E, § 248 und A). Der Begriff kann demnach die Natur nicht verdauen, auflösen, ideell machen, weshalb sie ihm entgegensteht und ihn entzweitet. Hegel gibt die Ohnmacht des Begriffs (d.h. des Denkens), die Zufälligkeiten und Besonderheiten der Natur (d.h. der Wirklichkeit) zu begreifen, konstruieren und deduzieren, für die „Ohnmacht der Natur, den Begriff in seiner Ausführung festzuhalten“ (E, § 250 A; HW VI, 282) und die logischen Formen „rein darzustellen“ (E, § 24 Z 2) aus, was bewirkt, dass die Natur die Begriffsbildungen nur abstrakt erhält und die Ausführung des Besonderen äußerer Bestimmbarkeit aussetzt (E, § 250).
68Hegels Behauptung über die Ohnmacht der Natur besagt, dass „die logische Idee als Natur zu ohnmächtig ist, um logisch vernünftig zu sein“, und vernichtet seine ganze Ansicht, weil sie eingesteht, dass die Tatsachen dieser Ansicht widersprechen und dass die Natur nicht bloß die sich äußerlich gewordene logische Idee ist, also dass die Kategorien nicht die reinen Wesenheiten der Dinge sind, die in den Gestalten der Natur und des Geistes nur auf besondere Weise sich ausdrücken (Ulrici 1852, 184). Da Hegel zufolge die Natur nur kraft des Begriffs ist, was sie ist, ist der Begriff selbst „so ohnmächtig, sich in seiner Ausführung nicht festhalten, nicht zur Ausführung gelangen zu können“, und der „unausführbare Begriff“, d.h. „das absolut Notwendige, das aber nicht zur Realität gelangen, und folglich auch nicht notwendig sein kann“, ist „der schlechthin unauflösbare Widerspruch, — eine Absurdität“ (Ulrici 1841, 133).
8.2
69Fichte behauptet, dass, obwohl durch den Begriff die Welt „in jeder Rücksicht“ gesetzt ist, die „beiden Bestandtheile des faktischen Seyn[s]“ auseinanderzuhalten sind, von denen einer „durchaus nicht durch den Begriff bestimmt ist“: „Das empirische ist seinem Daseyn nach zwar, durchaus aber nicht seiner Bestimmtheit nach, begreiflich“ (GA II/14, 334). Es ist allerdings „nur darum unbegreiflich […], weil es das absolute Nichts ist; lediglich dazu da im Begriffe, um am Gegensatze mit demselben das wahrhaftige Was zu verstehen, als solches“, denn ohne „die Begriffmäßigkeit […] ist keine Welt möglich“ (ebd. 334f.), während der faktische Inhalt oder die Bestimmtheit — die „nicht abgeleitet werden“ kann, „als das absolut Zufällige“ erscheint und „das bloß Empirische unserer Erkenntniß“ liefert (GA I/4, 242) — irrelevant ist.
Wir haben das ganze faktische […] in seiner Form eingesehen, als durchaus nothwendig, […] [obwohl wir] für den faktischen Inhalt dieser SichAnschauung des Ich nur überhaupt einsehen, daß eine seyn müsse; dafür aber, daß gerade diese sey, kein Gesez haben: zugleich aber auch scharf einsehen, daß […] das qualitative Gesez für diese Bestimmtheit eben die Gesezlosigkeit selbst sey. Wird nun das notwhendige als a priorisch genannt, so haben wir in diesem Sinne durchaus die ganze Fakticität als apriorisch eingesehen (GA II/14, 337f.).
70Fichte zufolge ist „das Grundgebrechen aller, ihre Grenzen verkennenden, vermeintlichen Wissenschaft (des transzendentalen Verstandesgebrauchs), wenn sie sich nicht begnügen will, das Faktum rein als Faktum zu nehmen, sondern es metaphysiziert“ (GA I/9, 188). Was „lediglich faktisch“ ist, ist nämlich nicht „auf ein höheres Gesetz“ zurückführbar, während solche Metaphysik, „willkürlich voraussetzend, es finde hier eine Erklärung statt, — welches ihr erster Fehler ist, — sich noch überdies auf ein Erdichten legen und durch eine willkürliche Hypothese die vorhandene Kluft ausfüllen müsse, welches ihr zweiter Fehler ist“ (ebd. 188f.). Fichte selbst metaphysiziert jedoch das Faktum, indem er ein Zufälliges als notwendig hinstellt. Denn die Begriffsmäßigkeit oder apriorische Form der Erfahrungswelt ist kein Notwendiges, weil sie auf den faktischen Inhalt der sinnlichen Erscheinungen angewiesen ist: Erfahrung könnte keine Begriffsmäßigkeit aufweisen, sondern eine Aufeinanderfolge zusammenhangloser Erscheinungen bilden, auf die weder Naturgesetze noch die Begriffe von Substanz und Kausalität noch der Satz vom Widerspruch anwendbar sind und in denen sich keine Dingwelt konstituieren kann, wie das beim Traum der Fall ist. Denn durch ein Wimmeln von „nicht nur für uns, sondern an sich unausgleichbaren Widerstreiten“ im Erfahren könnten die Dingsetzungen nicht einstimmig durchgehalten werden und es „keine Welt mehr“ geben (Hua III, 103).
Könnte nicht im Bewusstsein alles an Elementarten [...] auftreten, was dem Begriff Vernunft Sinn gibt [...], und doch der mannigfaltige Inhalt des Bewusstseins sich nicht streng rationalisieren lassen oder überhaupt nicht, also keine Natur und Naturwissenschaft? Was nützen die idealen Möglichkeiten, die zum Urteil, zur Evidenz gehören, und die Normen, die sie gewähren, wenn ein „sinnloses Gewühl“ da ist, das in sich keine Natur zu erkennen gestattet? (Ms. D 13 II/200b).
71Da das Denken keinen erfahrbaren Zusammenhang zwischen Erfahrungsinhalten herstellen kann, lautet die transzendentale Frage: „welche Formen muss Erfahrung selbst hinsichtlich der in ihr anschaulich erfahrenen Dingwelt haben, um begrifflich, urteilsmäßig, wissenschaftlich-wahrheitsmäßig erfassbar zu sein […]?“ (Hua XXXII, 97).
72Die Weisen, wie die Welt erkannt werden kann, sind durch die sachliche Wesensartung der Welt selbst bestimmt (ebd. 225). Um an die Erfahrungswelt apriorisch gültige Erkenntnisforderungen zu stellen, ist also aufzuweisen, dass diese zunächst von ihr selbst an die Erkenntnis gestellt werden (ebd. 247): Weil die Erfahrungswelt „gewisse intuitiv aufweisbare Strukturen hat, die uns binden, die an unser prädikatives Denken also Forderungen stellen“, sind „die an ein vernünftiges Erkennen zu stellenden Forderungen nicht solche, die wir leer formal deduzieren“, sondern solche, die die sinnliche Welt selbst „an uns stellt durch den ihr eigenen Sinn, sofern dieser ursprüngliche und erste Sinn (sinnliche Welt) in sich Möglichkeiten und Tendenzen zur Idealisierung als ,objektiv‘ in sich hat“ (ebd. 101f.).
73Wäre keine einheitliche und standhaltende Welt vor allem Denken, d.h. schon durch sinnliche Erfahrung anschaulich gegeben, wäre Welterkenntnis unmöglich (ebd. 15, 116; Hua XLI, 289; Hua IX, 56). Die Erfahrungswelt ist nur dann wissenschaftlich erkennbar, wenn sie „tragfähig für das wissenschaftliche Denken“, nämlich „logifizierbar“ ist (Hua XXXII, 97, 101), nur dann logisch-begrifflich erfassbar, wenn vor dem Eingreifen des Subjekts eine „Rationalität“ oder Gesetzmäßigkeit in den sinnlichen Gegebenheiten liegt (Hua Mat IX, 439). Bestünden keine standhaltenden Dinge, wären nämlich Logik und Mathematik nicht auf Erfahrung anwendbar (Ms. B IV 1/98b; Hua VII, 394f.). Denn alles kann unabhängig von seiner Besonderheit begrifflich bestimmt, verbunden, gezählt werden (Hua XXXVI, 23; Hua XIX, 716), aber das Bestimmen, Verbinden, Zählen setzt voraus, dass das Bestimmte, Verbundene, Gezählte ein „Identifizierbares als dasselbe“, also eine „mögliche Wirklichkeit“ ist (Ms. A VII 20/43a). Erst das Bestehen materialer Wesenszusammenhänge ermöglicht die Anwendung formaler Denkbestimmungen: Man kann der Erfahrung eine begriffliche Form verleihen, nur insofern sie eine sinnliche Gestaltung aufweist. Weltkonstituierend sind nämlich nicht die gedachten Denkzusammenhänge, die auf Erfahrung nicht wirken und in ihr keine Verbundenheit ergeben, sondern die gegebenen Erfahrungszusammenhänge, d.h. die sinnlich erfahrenen Verbindungen zwischen sinnlich erfahrenen Inhalten. Das Gegebene verdankt seine Form nicht dem Denken, es kann vielmehr lediglich dadurch Denkformen annehmen, dass es vor dem Denken eine sachliche Wesensstruktur besitzt. Letztere macht die Welt zu dem, was sie ist. Die Wirklichkeit ist sinnlich und hat eine sinnliche Wesensstruktur. Sie kann durch Gedanken erfasst werden, aber besteht nicht aus Gedanken.
74Fichte behauptet: „Das Positive in den Dingen ist schlechterdings weiter nichts, als was sich auf unser Gefühl bezieht, dass etwas roth ist[,] kann nicht abgeleitet werden, dass aber die Gegenstände in Raum und Zeit und in gewissen Beziehungen gegeneinander sind, das kann abgeleitet werden“ (GA IV/3, 382). Dazu ist zweierlei zu bemerken. 1) Dass etwas rot ist, bedingt sinnliche Ähnlichkeits- und Kontrastbeziehungen zwischen ihm und anderen Anschauungsinhalten; 2) Sinnliche Ähnlichkeit und sinnlicher Kontrast bilden „die Resonanz, die jedes einmal Konstituierte begründet“ (Hua XI, 406), weil sie Abhebungen und Verschmelzungen innerhalb des Anschauungsfeldes bestimmen, und sind wesensgesetzliche Zusammenhänge oder Ideenrelationen, weil sie bloß von den Vorstellungsinhalten abhängen (ebd. 400; Husserl 1972, 215). Gerade weil nicht nur Formen, sondern auch Inhalte eine Wesensgesetzmäßigkeit aufweisen und sich keineswegs bloß auf unser Gefühl beziehen, spricht Husserl von einer „Farbengeometrie“ (Hua XXIV, 412-417). Das Sinnliche besitzt sinnliche Wesensstrukturen. Dass jeder Ton eine Klangfarbe hat sowie dass gelb und rot ähnlicher sind als gelb und blau, gründet in der ontologischen Beschaffenheit dieser Inhalte und ist wie letztere sinnlich gegeben. Im Gegensatz zu begrifflichen Formen lassen sinnliche Wesensstrukturen keine Ausnahme oder Abweichung zu: Sinnliche Wesen leiden nicht an der Schwäche, die den Begriff auszeichnet. Objektiv ist daher die Wesensbeschreibung des Gegebenen, und nicht dessen Erklärung durch Rekurs auf nichtsinnliche Entitäten.
75Das wahrhaftige Was oder Prinzip der Weltkonstitution besteht gerade aus dem Positiven in den Dingen, nämlich aus dem sinnlichen Wasgehalt des jeweilig Gegebenen, welcher ein Zufälliges, Faktisches und Unableitbares ist. Weit entfernt davon, das absolute Nichts zu sein, macht also das Empirische seiner empirischen Bestimmtheit nach — das durchaus nicht durch den Begriff bestimmt ist — die Wesensstruktur der Erfahrungswelt aus und ermöglicht ihre Erkenntnis, indem es die sachlichen Beziehungen zwischen den Erscheinungen ergibt. Einen Satz von Hegel (HW XIV, 242) abwandelnd kann man sagen: Der sinnliche Gehalt ist es, der die Weltstruktur entscheidet. Die apriorische Wesensstruktur der Erfahrung ist nicht ableitbar, sondern faktisch, weil sie in der faktischen Wesensbeschaffenheit der faktisch gegebenen sinnlichen Inhalte, d.h. in dem Positiven in den Dingen gründet.27
76Da also die Begriffsmäßigkeit oder Gesetzmäßigkeit der Welt auf die unbegreifliche zufällige Bestimmtheit des Empirischen angewiesen ist, ist der Grund der Rationalität ein Irrationales, d.h. etwas, das anders sein könnte und nicht auf Vernunftgesetze zurückführbar ist. Es ist ein Faktum, das rein als Faktum zu nehmen, also bloß festzustellen ist. Als „Norm der Möglichkeit“ ermöglicht das Apriori, „das Faktum rational zu ,erklären‘, nämlich es aus Prinzipien verständlich zu machen“ (Hua XLI, 320). „Das Faktum, das Irrationale“ bildet jedoch die „Voraussetzung aller Rationalität“ (Hua XLII, 66) und das „letztlich Wirkliche[]“: Weil die Konstitution in der passiven Einheitsbildung gründet, ist „alles letztlich faktisch, also auch die Wesensstruktur, als Prinzip der Erklärungen“ (ebd. 67).
77Der Inhalt des Seins und der Seinsformen wird durch den irrationalen Stoff (Hua XXVIII, 226; Hua Mat IX, 196f.), d.h. durch „das materiale Faktum“ oder „empirisch Zufällige“ (Hua XIV, 306) bestimmt. Dass die Welt eine apriorische Struktur oder Gesetzmäßigkeit hat, ist nicht erklärbar, d.h. aus apriorischen Vernunftgesetzen ableitbar, weil es auf das „Faktum“ angewiesen ist, dass „das Urmaterial gerade so verläuft in einer Einheitsform“ (Hua XV, 385). Insofern also ihre Konstitution vom sinnlich Gegebenen abhängig und wie dieses zufällig ist, ist die Welt „ihrer Existenz und ihrem Sosein nach ein irrationales Faktum“ (Hua XVI, 289).
78Was wirklich ist, das ist unvernünftig, da es durch die Unvernunft der Äußerlichkeit ausgezeichnet ist, nicht abgeleitet werden kann, durchaus nicht durch den Begriff bestimmt und somit unbegreiflich ist.
79Gäbe es ein Gewühl von Erscheinungen anstatt einer gesetzmäßigen Aufeinanderfolge von Erscheinungen, dann gäbe es keine Wirklichkeit. Dass es eine Wirklichkeit gibt, ist kein Notwendiges und aus dem Begriff Ableitbares, sondern ein Zufälliges oder Faktisches, d.h. etwas, das anders sein könnte und somit unvernünftig ist.
80Gerade weil es das Andere des Denkens oder das dem Denken Heteronomische ist, kann das Wirkliche nicht aus dem Denken und dessen Gesetzen abgeleitet werden. Begreifen kann man, wie die Wirklichkeit faktisch beschaffen ist, aber nicht warum sie beschaffen ist, wie sie faktisch beschaffen ist. Warum eine wirkliche Welt und nicht ein Gewühl von Erscheinungen, das keine begriffliche Erkenntnis zulässt? Warum eben diese Welt mit eben diesen Strukturen und Gesetzen? Das Faktum, dass Erfahrung eine Wesensstruktur hat sowie dass sie die Wesensstruktur hat, die sie hat, kann nicht abgeleitet oder erklärt werden, da es auf die faktische Wesensbeschaffenheit der faktisch gegebenen sinnlichen Inhalte angewiesen ist.
9. Adornos Ausweg aus dem Positivismus der Idee
81Das Positivistische, das dem Idealismus anhaftet, hat ein Hegelianer und Gegner des Positivismus wie Adorno hervorgehoben. Er bemerkt, „dass der konsequente Idealismus eigentlich außerhalb des Geistes nichts duldet, dass also in ihm alles Geist sei“, was die Konsequenz hat, welche in Hegels System mit der äußersten Energie gezogen wurde, „dass es eigentlich gar nichts Geistiges als ein von dem Seienden Isoliertes gibt“ (Adorno 1974, 75). Demzufolge hat
der ganz konsequente Idealismus eine sonderbare Affinität zum Positivismus […], also zu einem Sich-an-das-Tatsächliche-Halten. Es ist ja angeblich verbürgt, dass das Tatsächliche selber Geist sei, auch, wenn man dieses Seiende als ein Positives akzeptiert; denn auf Grund des Ansatzes soll feststehen, dass dieses Seiende eben als Geist das Positive, das Gute, das Absolute ist (ebd. 77).
82Gegen den Subjektivismus des Identitätsdenkens — das dem Idealismus und besonders Hegels Denken zugrunde liegt, wie Horkheimer bereits 1932 kritisch hervorhob —28 verteidigt der späte Adorno den Vorrang des Objekts als des Nichtidentischen, indem er „das Objektive am Objekt“ als „das nicht zu Vergeistigende daran“ bezeichnet (GS VI, 193) und von einem „unauslöschlich Ontischen“ (ebd. 140) sowie von einem „mit dem Denken nicht identischen Sachhaltigen“ spricht, das das Denken nicht „abzuschütteln“ vermag (ebd. 139), denn „es lässt nicht wiederum in den Gedanken sich verflüchtigen“ (ebd. 140). Empfindung ist „ein nicht in Bewusstsein Aufgehendes“ (ebd. 194) und bildet das „Nichtbegriffliche“ (ebd. 141). Ganz phänomenologisch schreibt Adorno: „Für die Form Sachhaltiges überhaupt ist konstitutiv die inhaltliche Erfahrung von Sachhaltigem“ (ebd. 139).
83Er kritisiert die idealistische Täuschung, in der Bewegung der Abstraktion werde man dessen ledig, wovon abstrahiert ist (ebd.), und die traditionellen Philosophien, die „eigentlich nur sich selbst“ erkannten (ebd. 153): Indem sie das Heterogene als sich selber, mithin als Geist deuteten, wurde es ihnen schon wieder zum „Identischen, in dem sie sich, wie mit einem gigantischen analytischen Urteil, wiederholten“ (ebd. 158). Hegels Idealismus ist gerade „ein einziges gigantisches analytisches Urteil“ (Adorno 1974, 72). „Das Diktat seiner Autarkie verdammt Denken zur Leere“ (GS VI, 152).
84Hegels idealistische Präsupposition, das Subjekt könne darum dem Objekt vorbehaltlos sich überlassen, weil letzteres im Prozess als Subjekt sich enthülle, notiert nach Adorno „wider den Idealismus ein Wahres über die denkende Verhaltensweise des Subjekts: es muss wirklich dem Objekt ,zusehen‘, weil es das Objekt nicht schafft, und die Maxime von Erkenntnis ist, dem beizustehen. Die postulierte Passivität des Subjekts misst sich an der objektiven Bestimmtheit des Objekts“ (ebd. 189). Um den objektiven Gehalt individueller Erfahrung herzustellen, muss das Subjekt dem Objekt „ohne Vorbehalt“ sich überlassen, denn der Erkenntnis des Objekts „nähert sich der Akt, in dem das Subjekt den Schleier zerreißt, den er um das Objekt webt. Fähig dazu ist es nur, wo es in angstloser Passivität der eigenen Erfahrung sich anvertraut“ (GS X/2, 752). „Vorrang des Objekts“ besagt eben „das an diesem, was nicht subjektive Zutat ist. Subjekt ist das Agens, nicht das Konstituens von Objekt“ (ebd.).
85Adorno zufolge hat zwar die empiristische Lehre vom Ursprung aller Bewusstseinsinhalte aus den Sinnen „etwas vom Vorrang des Objekts vermerkt“ und die empiristische Kritik am naiven Realismus ist „rudimentär ,realistisch‘“ vermöge des Faktizitätscharakters der Unmittelbarkeit und der Skepsis gegen das Subjekt als Schöpfer (GS VI, 188); aber die Unmittelbarkeit ist „ein vom Objekt Abstrahiertes, Rohmaterial des subjektiven Produktionsprozesses“, das „nackte sinnliche Datum“ ist Produkt des „Abstraktionsprozesses“ und das „Residuum des Objekts als das nach Abzug subjektiver Zutat erübrigende Geschehen ist ein Trug der prima philosophia“ (ebd. 187f.). So rangiert Adorno den einzigen Ausweg aus dem idealistischen Vorrang des Subjekts und dem Identitätsdenken aus, welches das Ontisch-Sachhaltige in leere Abstraktionen verflüchtigt. Einen solchen Ausweg sucht er in Kants Apologie vom Ding an sich, in der „das Moment des Vorrangs von Objektivität“, d.h. „die Idee der Andersheit“ verteidigt werde, ohne die Erkenntnis zur Tautologie verkäme, weil das Erkannte sie selbst wäre (ebd. 185, 286 Anm.): Dank der „Distinktion von transzendentem Ding an sich und konstituiertem Gegenstand“ wäre das Objekt „einmal das Nichtidentische, befreit vom subjektiven Bann“ (GS X/2, 752).
86Feuerbach bemerkt, dass das vom Wort „das Unmittelbare“ Bezeichnete gänzlich Hegels Philosophie fehlt, weil er von vornherein das Unmittelbare zu einer Eigenschaft des „Allervermittelsten“, d.h. des abstrakten Begriffes macht (GW XI, 151; GW IX, 247). Ähnliches gilt für Adorno, der wie Hegel an Vermittlungsfetischismus leidet, obwohl er behauptet, dass das, was vermittelt wird, nicht in der Vermittlung aufgeht und dass Unmittelbarkeit nicht ebenso der Vermittlung bedarf wie diese des Unmittelbaren (GS VI, 174). Denn ihm zufolge ist „beim Begriff anzuheben, nicht bei der bloßen Gegebenheit“, weil „das Seiende nicht unmittelbar, sondern nur durch den Begriff hindurch ist“ (ebd. 156).
87Im Bestreben, den Vorrang des Objekts zu vertreten, ohne den Vorrang des unmittelbar Gegebenen zu erkennen, geht Adorno so weit, Hegels und Fichtes treffenden Behauptungen zu widersprechen, das Ding an sich sei „nur das Produkt des Denkens“, und zwar „des zur reinen Abstraktion fortgegangenen Denkens, des leeren Ich, das diese leere Identität seiner selbst sich zum Gegenstande macht“ (E, § 44 A), und bilde eine „bloße Erdichtung“ oder „völlige Chimäre“, da es in der Erfahrung nicht vorkommt, mithin „keine Realität [hat], außer diejenige, die es dadurch erhalten soll, dass nur aus ihm die Erfahrung sich erklären lasse“ (GA I/4, 190, 192f.). Dinge an sich sind subjektive Denkgebilde, die dem Abstraktionsprozess entstammen, mithin „selbsterdachte Wesen“, die „an die Stelle der sinnlichen Realitäten“ gesetzt werden (Feuerbach 1904, 321). Weit davon entfernt, den Vorrang von Objektivität, von Andersheit und von Nichtidentischem einzuschließen, bildet also die Apologie vom Ding an sich den Sieg der Subjektivität, der Abstraktion und der Identität.
88Beim Versuch, der Abstraktion zu entgehen, verfällt Adorno insofern der Abstraktion, als er verweigert, das sinnlich Gegebene — das das Andere des Denkens oder ihm Heteronomische bildet — als das Reale anzusehen. Bei ihm — genauso wie bei Hegel — ist „die Negation der Abstraktion selbst wieder eine Abstraktion“ (GW IX, 313). Er selbst betrachtet nämlich das Reale als Korrelat des Denkens anstatt der Anschauung und schreibt dem Nicht-Wahrnehmbaren, sondern Nur-Denkbaren Realität zu, indem er im Idealismus befangen bleibt. Der Antiempirismus ist es also, der Adorno daran hindert, vom Idealismus loszukommen. Denn wer den Positivismus des Gegebenen verwirft, verfällt zwangsläufig dem Positivismus der Idee.
89Das Nichtidentische und nicht zu Vergeistigende ist das Mannigfaltige der sinnlichen Anschauung, das nicht nur denkbar, sondern auch wahrnehmbar ist. Um „den idealistischen Bannkreis“ (GS VI, 149) zu überschreiten, ist dem Sinnlichen ein ontologischer und der Wahrnehmung ein epistemischer Vorrang zu verleihen: Insofern das Reale an sich sinnlich ist, mithin „das in der Wahrnehmung wahrgenommene Ding das Ding selbst ist, in seinem selbsteigenen Dasein“ (Hua XVII, 287), bildet Wahrnehmung „das letzte Maß der Wirklichkeit“ (Hua XL, 314) und „ist selbst nichts zu Begründendes, sie ist dafür selbst Grund gebend“ (Hua XXIV, 8), obwohl sie täuschen kann. Denn erst durch eine andere Wahrnehmung kann sich eine Wahrnehmung als Täuschung erweisen (Hua XVII, 287). „Nur Wahrnehmung hebt Wahrnehmung aus dem Sattel“ (Hua XXXVI, 40).
90Das Residuum des Objekts nach Abzug subjektiver Zutat bildet die Ausführung der von Adorno geforderten Befreiung vom subjektiven Bann. Dadurch macht man Feuerbachs Beanspruchung einer „sinnlichen, d.i. unverfälschten, objektiven Anschauung des Sinnlichen, d.i. Wirklichen“ (GW IX, 326) geltend, die auch Husserls Idee einer transzendentalen Ästhetik zugrunde liegt. Das unmittelbar Gegebene ist das, was nicht nur durch Denkvermittlungen begreifbar, sondern auch durch unmittelbare Wahrnehmungen erfahrbar ist.29 Um es zu ergreifen, muss man „das Moment des Begrifflichen“ (Hua XXIV, 319), nämlich die durch das Subjekt hinzugefügten nichtsinnlichen Denkbestimmungen abziehen. Obwohl das, was wir denken, durch Denken vermittelt ist, können wir immer das passiv, d.h. unabhängig vom Denken Gegebene und das von der Denktätigkeit ihm Hinzugetane auseinanderhalten. Dinge und Farben sowie Ding- und Farbähnlichkeiten sind auch Subjekten gegeben, denen wir das begriffliche Denken absprechen.
10. Schluss
91Im hier vertretenen phänomenologischen Ansatz würde Hegel wohl ein „bestialische[s] Anstieren der Welt“ sehen, welches das „Ordnen der Wahrnehmungen“ aus dem „ewigen stieren Wahrnehmen der Objekte“ begreifen will (HW II, 221).
92In Hegels Sicht ist Realität „kein formloses Magma, sondern ein verständliches, erkennbares Ganzes“, weil „Ideen, Begriffe objektiv innerhalb der Wirklichkeit existieren“ (Bouton 2019, 50), mithin letztere „nach ‚Denkbestimmungen‘ strukturiert ist, d.h. nach allgemeinen und objektiven Strukturen“ und bestimmte Begriffe „ihre rationellen Strukturen aus der Masse der sensiblen Daten befreien“ (ebd. 52). Nun, Realität ist zwar ein erkennbares Ganzes, aber sie ist nicht nach Denkbestimmungen, sondern nach sachhaltigen oder sinnlichen Wesensformen strukturiert, die in der sachhaltigen oder sinnlichen Wesensbesonderheit der faktisch gegebenen sinnlichen Wesensgehalte gründen. Die reale Welt ist ein sinnliches Ganzes.30 Um ihre objektiven Strukturen zu erfassen, ist darum nicht vom Sinnlichen, sondern von den subjektiven Zutaten abzusehen.
93Gegen Hegels These, „dass, was gedacht ist, ist; und dass, was ist, nur ist, insofern es Gedanke ist“ (E, § 465), ist einzuwenden, dass, was gedacht ist, nur ist, insofern es gegeben ist. Denn wie Feuerbach bemerkt, hat der Beweis, dass Etwas ist, bloß den Sinn, „dass Etwas nicht nur Gedachtes ist“, und kann „nicht aus dem Denken selbst geschöpft werden. Wenn zu einem Objekt des Denkens das Sein hinzukommen soll, so muss zum Denken selbst etwas vom Denken Unterschiedenes hinzukommen“, nämlich „die Sinne“ (GW IX, 303). Sinnlichkeit ist gerade „das wesentliche Merkmal einer objektiven Existenz außer dem Gedanken oder der Vorstellung“ (ebd. 269) und ihr Vorrang bildet einen Vorrang von Passivität und Anschauung, mithin von Objekt vor Subjekt. Denn „[d]as passivum des Ichs ist das activum des Objekts“ (ebd. 150). „In der Anschauung werde ich bestimmt vom Gegenstande, im Denken bestimme ich den Gegenstand […]. Nur aus der Negation des Denkens, aus dem Bestimmtsein vom Gegenstande […] erzeugt sich der wahre, objektive Gedanke, die wahre, objektive Philosophie“ (ebd. 254).31
94Das objektive Denken hat nicht sich selbst, sondern sein Anderes zum Gegenstand. Objektiver Gedanke ist nämlich nicht der Gedanke, der seine Inhalte aus sich selbst schöpft und sich selbst bzw. seine Geschöpfe als die wahrhafte Wirklichkeit hinstellt, sondern der Gedanke, der das betrifft, was nicht Denken ist. Es geht um das, was nicht nur denkbar, also durch Denken erfassbar, sondern auch erfahrbar, also unabhängig vom Eingreifen des Subjekts in der Erfahrung antreffbar ist. Dinge, die nicht erfahrbar, sondern nur denkbar sind, mithin nicht in der Erfahrung, sondern bloß im Denken bestehen, sind keine realen, sondern Gedankendinge. Eigentliche Dinge an sich sind Sinnendinge.
95Das Denken kann freilich nicht von sich selbst abstrahieren. Man kann nicht an einen nicht gedachten Gegenstand denken. Wie Brentano (1924, 129-132) bemerkt, ist jedoch ein gedachter Gegenstand nicht ein Gegenstand als gedachter, denn ein weißes Stück Zucker schmecken, heißt nicht, ein Stück Zucker als weißes schmecken. Das Attribut „gedacht“ kann nämlich im determinierenden oder modifizierenden Sinn gebraucht werden und die Verwandlung oder „Transsubstantiation“ des realen Gegenstandes in einen idealen findet erst im zweiten Fall statt.32 An etwas denken, heißt nicht, es zu einem „Denkgegenstand“ machen. Insofern sie sinnliche Bestimmungen aufweisen, sind Erfahrungsgegenstände keine Denkgegenstände, wenngleich sie gedacht werden können.
96Reales ist nur dann erreichbar, wenn man aus dem reinen Denken herauskommt. Dies heißt nicht, aufzuhören, die Logik zu gebrauchen, sondern sie zu gebrauchen, um das zu denken, was kein Gedanke ist. Es geht also nicht darum, aufs Denken zu verzichten (was widersinnig wäre), sondern darum, was Denken ist und was weder Denken ist noch aus Denken ableitbar ist, auseinanderzuhalten, also dem Unterschied zwischen dem Denken und seinem Anderen, d.h. dem ihm Heteronomischen gerecht zu werden. Was sinnliche Bestimmungen aufweist und erfahrbar ist, ist kein Gedanke, obwohl es vergeistigt und im Denken als Sinnliches aufgehoben werden kann. Nachdem es gedacht und im Begriffe gefasst worden ist, hört ein Sinnending nicht auf, ein Sinnliches und Wahrnehmbares zu sein, mithin einen anderen Seinsstatus als der Gedanke zu haben.
97Hegel würde sagen, dass solche Betrachtungen nur vom Standpunkt des sinnlichen Bewusstseins aus oder in der sinnlichen Vorstellungsweise gelten (E, § 248 A, 250 A) und ein Philosophieren auszeichnen, das sich beim Sein nicht über die Sinne erhebt, indem es Denken und Sein gegenüberstellt (HW VI, 404), während „im Begriffe“ sich die Realität der Anschauung und des Seins und damit der Schein aufhebt, den sie als das Reelle hatten (ebd. 260). Ein Schein ist allerdings solche Aufhebung, weil das Denken das Reale oder Gegebene in seinem eigenen Sein nicht ändern kann. Es ist ein Äußerliches, das durch keine Idealisierung oder Vergeistigung wirklich tangiert werden kann. Der Unterschied zwischen Gegebenem und Gedachtem ist unaufhebbar, denn das Denken kann weder bewirken, dass etwas nicht nur denkbar, sondern auch erfahrbar ist, noch bestimmen, was sinnlich erfahren wird und was für eine sinnliche Struktur es hat. Das Denken wirkt nicht wirklich auf das Wirkliche oder Gegebene und ist gegenüber diesem ohnmächtig, weil es es wegdenken oder wegdeuten, aber keineswegs wirklich ändern oder wegschaffen kann. Es kann ja nicht einmal die Besonderheiten des Wirklichen oder Gegebenen erklären und begründen, wie Hegel selbst einräumt. Da die Denktätigkeit, wodurch das Sinnliche oder Reale vergeistigt wird, ein bloß Subjektives ist, kann sie bloß ideale Bestände erzeugen und das Sinnliche oder Reale bloß ideell, nämlich bloß im Denken oder im Begriffe aufheben. Denn die Erfahrungswelt wird keineswegs durch unsere theoretische und praktische Tätigkeit geändert, sondern „bleibt, als sie ist, in ihrer eigenen Wesensstruktur […] ungeändert, was immer wir kunstlos oder als Kunst tun“ (Hua VI, 51).
98Da sie den Sinn, den die Welt für uns aus Erfahrung hat, enthüllen, aber nicht verändern kann (Hua I, 177), hat die Philosophie eine deskriptive Aufgabe: Sie soll keine wahrhaftere Welt erschließen, sondern den vorgegebenen Weltsinn, nämlich den natürlichen Weltbegriff entfalten.
99Wie Lewis (1929, 17) bemerkt, hat die philosophische Wahrheit nur in Anwendung auf Erfahrung ihre Bedeutung. Er bezeichnet eine über alle Erscheinungen hinausreichende und ihnen zugrundeliegende Wirklichkeit als „a kind of philosophical ignis fatuus“ und tadelt „that philosophic legerdemain which, with only experience for its datum, would condemn this experience to the status of appearance and disclose a reality more edifying“ (ebd. 9). Die Philosophie soll nicht eine Wirklichkeit jenseits der Erfahrung suchen, sondern die Maßstäbe bestimmen, wonach das Wort „real“ richtig angewandt wird: „It will seek to determine the nature of the real […] purely by critical consideration of what does not transcend ordinary experience. That is, it will seek to define ,reality‘, not triangulate the universe“ (ebd. 10).
100Ähnliches vertrat Herbart 1831 in seiner Rezension von Hegels Enzyklopädie:
Der Philosoph soll den vor ihm liegenden Gegenständen keine Uniform anziehen, er soll vielmehr sie erkennen wie sie sind, und sie in der Gestalt auffassen die sie ihm zeigen. Dieser Unterordnung des Forschers unter den Gegenstand aber widersetzt sich der böse Geist des Idealismus; der älter ist als Hegels Lehre; und dessen Gewalt über sehr scharfsinnige Köpfe wir leider schon längst, aus früheren Zeiten kennen.
Abkürzungen
101E Hegel, G. W. F., Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse. In HW, Bde. VIII–X.
102GA Fichte, J. G., Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Stuttgart-Bad Cannstatt: Fromman-Holzboog, 1962–2012.
103GS Adorno, T. W., Gesammelte Schriften. Hg. von R. Tiedemann. 20 Bde. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1970–1986.
104GW Feuerbach, L., Gesammelte Werke. Hg. von W. Schuffenhauer. Berlin: Akademie Verlag, 1967–
105Hua Husserliana. Edmund Husserl – Gesammelte Werke. Den Haag: Nijhoff (dann Kluwer, dann Springer), 1950–
106Hua Mat Husserliana Materialien. Edmund Husserl – Materialien. Dordrecht: Kluwer (dann Springer), 2001–
107HW Hegel, G. W. F., Werke in 20 Bänden. Hg. von E. Moldenhauer und K. M. Michel. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1969–1971.
108MEW Marx, K., Engels, F., Werke. 44 Bde. Berlin: Dietz, 1956–1968.
109SW Schelling, F. W. J., Werke. Hg. von M. Schröter. 12 Bde. München: Beck und Oldenbourg, 1927–1954.
Ich danke der Direktorin des Husserl-Archivs in Löwen, Prof. Julia Jansen, für die Genehmigung, aus Husserls unveröffentlichten Manuskripten zu zitieren, sowie Wolfgang Kaltenbacher für die Hinweise zur Verbesserung des Textes.
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Voetnoten
1 Vgl. Hua XXXV, 289; Hua XXXVII, 178, 195, 434; Hua VII, 148, 149, 182; Hua XXIV, 219; Hua XXXIV, 241.
2 Neben einer psychologisch-introspektiven liegt bei Husserl eine ontologisch-eidetische Auffassung des Begriffs „transzendental“ vor. Denn er gebraucht „transzendental“ auch als Synonym von „aus der Wesensintuition möglicher Welt geschöpft“ (Hua XXXII, 123) und bezeichnet die „apriorischen Bedingungen möglicher Erfahrung“ als die „ontisch-apriorische[n] Wesensstrukturen, ohne die eine Welt als Welt möglicher Erfahrung undenkbar wäre“ und die durch die „Methode der Wesensvariation“ gewinnbar sind (ebd. 118).
3 Vgl. Hua XXXVI, 27, 138; Ms. B I 4/15a; Hua XLII, 577. Husserl übernimmt Windelbands Bezeichnung des Idealismus als der „Auflösung der Erfahrungswelt in Bewusstseinsprozesse“ (Windelband 1900, 463 Anm. 1; vgl. Schuhmann, Smith 1985, 774).
4 Dazu vgl. die Abhandlungen von Lübbe 1972, Sommer 1985 und Fisette 2012, die besonders den Einfluss von Mach und Avenarius behandeln. Zum Nebeneinander von realistischen und idealistischen Motiven bei Husserl vgl. De Palma 2022.
5 „Nicht jedes Wesen ist in Wesensanschauung zu geben, oder anders gesprochen: So wie nicht jeder Gegenstand anschaulich ist, einen Vorstellungsgehalt hat, sondern nur ein individueller Gegenstand, so hat auch nicht jedes Wesen einen anschaulichen, einen wesensanschaulichen Gehalt. Das betrifft alle formalen Wesen, so ist z.B. Zwei nicht anschaulich erfassbar. […]. Im engeren Sinn ist Anschauung ursprünglich gebendes Bewusstsein von Individuen als individuelle Anschauung nach ihrem Phantomwesen und von allgemeinen Wesen als eidetische Wesensanschauung, wobei die letztere bezogen ist auf die ideell geschlossene und völlig scharf unterschiedene Klasse von Eide, die eidetische Allgemeinheiten zu den individuellen Vorstellungsinhalten (Anschaubarkeiten) darstellen“ (Hua XLI, 160).
6 Vgl. Rang 1990, 339-396.
7 Nach Husserl ist das Bewusstsein wirklich, weil es sinnlich wahrnehmbar ist: Da Akte und Empfindungen zum Gebiet der Sinnlichkeit gehören, ist innere Wahrnehmung sinnliche Wahrnehmung. Vgl. Hua XIX, 668, 706-709; Kern 1975, 248-254.
8 Vgl. Hua III, 81; Hua XV, 502; Hua IX, 193; Hua XXXIV, 237 Anm. 2.
9 Vgl. Hua XVIII, 250f.; Hua XVII, 95f., 105-107; Hua VII, 27-29, 42; Hua XXXV, 455f.
10 Vgl. Hua XIX, 255-262; Hua XXXVII, 225f.; Hua XXIV, 332f.; Hua XLI, 319f.
11 Zum Gedanken einer materialen Gesetzmäßigkeit vgl. De Palma 2014.
12 Vgl. Hua XIX, 283-291, 665-667, 703f., 714-716; Hua XXXI, 101; Hua XLI, 128; Husserl 1972, 214-223, 296f.
13 Vgl. Hua XVII, 297; Ms. A VII 20/47a; Sowa 2008, XXIX-XXXVIII.
14 Vgl. unten, Fn. 17.
15 Die Widerspenstigkeit der Natur gegen den Begriff (die in § 8 erläutert werden wird) „setzt der Philosophie Grenzen“ (E, § 250 A), gerade weil das philosophische Begreifen bloß darin besteht, die logischen Bestimmungen im zu Begreifenden wiederzufinden. Denn das Interesse der Realphilosophie ist „nur, die logischen Gestalten der Natur und des Geistes zu erkennen, Gestalten, die nur eine besondere Ausdruckweise der Formen des reinen Denkens sind“ (E, § 24 Z 2).
16 Von einer Verflüchtigung der Gegenstände „zu bloßen Momenten des sich entwickelnden Wissens oder Begriffs“ bei Hegel spricht auch Schmid (1858, 113).
17 Bereits Aristoteles bemerkt, dass das Logische, d.h. der Bereich des Urteils auf die Denktätigkeit des Subjekts angewiesen ist und kein außerhalb des Denkens Existierendes bezeichnet (Met. 1027b 30-1028a 2, 1065a 22): „Das Falsche und das Wahre liegt nicht in den Dingen, […] sondern im Denken“, da es aus der Verbindung und Trennung stammt, die „im Denken, aber nicht in den Dingen“ stattfindet (ebd. 1027b 25-29).
18 Vgl. Hua XVII, 32-34, 379-383; Hua XLI, 101; De Palma 2014.
19 Adorno behauptet, die dialektische Logik sei „positivistischer als der Positivismus“, denn „sie respektiert, als Denken, das zu Denkende, den Gegenstand auch dort, wo er den Denkregeln nicht willfahrt“, da er objektiv widersprüchlich ist (GS VI, 144). Die These eines objektiven Widerspruchs (ebd. 154f.) beruht auf der idealistischen Annahme, nach welcher die logischen Urteilsformen ontologische Seinsformen des Wirklichen sind und welche abwegig ist (vgl. oben, § 5). Es gibt keinen Widerspruch ohne Spruch, mithin ohne Urteilsformung, die dem Gegebenen durch das Subjekt hinzugefügt wird: Widersprüchlich oder widerspruchsfrei sind nicht sinnliche Dinge, sondern Urteile; Dinge können es sein, nur sofern sie nichtsinnliche Denkformen erhalten und in Urteile eingeformt werden, also nicht als sinnliche Dinge. Adornos Behauptung zeigt jedenfalls, dass in jeder Forderung, die Wirklichkeit zu erfassen, der positivistische Anspruch liegt, sich an die objektiven (Tat)sachen zu halten.
20 Vgl. Bouton 2019, 41. Heidemann (2002; 2018, 82-90) hat gezeigt, dass die Theorie, die Hegel als Repräsentant der sinnlichen Gewissheit in der Phänomenologie des Geistes vor Augen steht, der im Skeptizismus-Aufsatz angeprangerte unmittelbare oder direkte Realismus von Schulze ist, demzufolge nur das unmittelbar Gegebene das unleugbar Wirkliche ist, das mittelbar (logisch-begrifflich) Erschlossene ungewiss bleibt und somit das „Dasein äußerer Gegenstände“, verstanden „als wirkliche, absolut einzelne, ganz persönliche, individuelle Dinge“, absolut gewiss ist (HW III, 91). Laut Hegel besteht der Realismus gerade in der empiristischen These, dass nur einzelne oder unmittelbare Dinge wirklich existieren.
21 Vgl. Bouton 2019, 39.
22 Marx sieht „das Mysterium der Hegelschen Philosophie“ in der „Unkritik“ bzw. im „Mystizismus“ (MEW I, 287), indem er den „unkritische[n]“ (MEW Ergbd. I, 573) und „falschen Positivismus Hegels“ (ebd. 581) anprangert, der durch „das Umschlagen von Empirie in Spekulation und Spekulation in Empirie“ (MEW I, 241) ausgezeichnet ist. Denn das Allgemeine wird „unmittelbar mit der empirischen Existenz konfundiert“ und „das Beschränkte unkritischerweise sofort für den Ausdruck der Idee genommen“ (ebd. 244). Die „Verkehrung des Subjektiven in das Objektive und des Objektiven in das Subjektive“ führt eben dazu, „dass unkritischerweise eine empirische Existenz als die wirkliche Wahrheit der Idee genommen wird; denn es handelt sich nicht davon, die empirische Existenz zu ihrer Wahrheit, sondern die Wahrheit zu einer empirischen Existenz zu bringen, und da wird denn die zunächstliegende als ein reales Moment der Idee entwickelt“ (ebd. 240f.). Daraus, dass „ein besondres empirisches Dasein, ein einzelnes empirisches Dasein im Unterschied von den andern als das Dasein der Idee gefasst wird“, stammt der Eindruck einer „Menschenwerdung Gottes“ (ebd. 241).
23 Die Fichte-Zitate werden nicht der neuen Rechtschreibung angepasst.
24 Die Lehre der Nichtigkeit der Welt und des Mannigfaltigen als Geschöpften sowie der ausschließlichen Wirklichkeit von Gott als Schöpfer vertritt bereits Eckhart, der behauptet, Gott allein sei und alles Andere als Erschaffenes oder Geschöpf sei in sich selbst ein Nichts, weshalb, wer die Welt zusammen mit Gott nimmt, nicht mehr hat, als wenn er Gott allein hätte (Eckhart 1958, 69f., 170, 185, 197); das Mannigfaltige sei nichts, weil nur das Eine ist (ebd. 368; Eckhart 2006, 79-81); und als das Eine sei Gott negatio negationis, da er alles Andere verneint, das nichts ist (Eckhart 1958, 363, 354).
25 Wie Schmidt (1973, 134) bemerkt, betrachtet Feuerbach die Natur „als den — von jeder menschlichen Praxis unabhängigen — Boden der Praxis“. Aber anders als Schmidt (ebd. 22-30) meint, ist Marx’ Kritik an Feuerbach grundverkehrt. Denn „die sinnliche Welt“ bildet keineswegs „die gesamte lebendige Tätigkeit der sie ausmachenden Individuen“ (MEW III, 45), sondern ist vor jeder Tätigkeit gegeben und ermöglicht sie. „Sinnlichkeit“ ist nämlich nicht „Praxis“ oder „praktische Tätigkeit“ des Subjekts (ebd. 5, 7), sondern ihre Voraussetzung: Durch Sinnlichkeit ist das passiv vorgegeben, worauf allein Praxis ausgeübt werden kann. Der ständige Boden für alle theoretische und außertheoretische Praxis ist die sinnliche Erfahrungswelt oder körperliche Natur, die ständig als seiend vorgegeben und in ihrer Allgemeinheitsstruktur invariant ist (Hua VI, 113, 124, 132f., 142, 145, 360f., 386, 461). Die „Vorstellbarkeit[] des Andersseins“, d.h. die Möglichkeit, sich die Dinge anders vorzustellen, als sie wirklich sind, ist „Voraussetzung einer umgestaltenden Praxis“ (Hua IX, 205). Aber jede denkmögliche Veränderung des materiellen Dings findet innerhalb der durch sein unveränderliches Wesen bestimmten Grenzen statt: Das Ding kann eine andere Raumgestalt oder Farbe annehmen, aber nicht gestaltlos oder farblos werden. Im Gegensatz zur geschichtlichen Struktur der durch menschliche Praxis gebauten Gesellschaft kann die ungeschichtliche Struktur der durch sinnliche Wesensgehalte bestimmten Erfahrung im Lauf der Geschichte sich nicht verändern, da — anders als soziale und Produktionsverhältnisse, die geschichtliche Produkte bilden — sinnliche Strukturverhältnisse „unhistorisch“ sind (Hua Mat VIII, 338).
26 In § 118 seiner Allgemeinen Metaphysik bemerkt bereits Herbart, dass Größe, Gestalt und Dauer wie auch Beschaffenheiten „gegeben“ werden und wir an sie „gebunden“ sind. Z.B. „werden Gold und Wasser dergestalt gegeben, dass noch Niemand das Wasser für eine goldgelbe, undurchsichtige Flüssigkeit, noch Niemand das Gold für einen zwar schweren und dehnbaren, aber dabei durchsichtigen und wasserklaren Körper gehalten hat. […] die Erfahrung hat auch ihre gegebenen Formen! Und in diesen gerade liegt das Dringende des Gedankens: ein Reales müsse vorhanden sein, das für den Zuschauer solche Formen annehme“.
27 Dass Farben eine bestimmte Wesensstruktur haben, ist notwendig oder a priori. Dass Farben und ihre notwendige Wesensstruktur gegeben sind, ist allerdings zufällig oder a posteriori. Die notwendige Wesensstruktur der Farben ist insofern zufällig, als Farben zufällig sind: Solche Wesensstruktur besteht in der Welt nur dann, wenn in der Welt Farben bestehen. Dasselbe gilt für alle anderen sinnlichen Wesensgehalte. Wie Husserl bemerkt, „sind auch ewige Wahrheiten bloß affektiv kontingent, wenn ihre Begriffe es sind“ (Hua XLI, 101). Vgl. De Palma 2014.
28 Vgl. Horkheimer 1987. Bei Hegel ist nach Horkheimer „alle Erkenntnis Selbsterkenntnis des mit sich identischen unendlichen Subjekts“ (ebd. 297).
29 Hegels These, dass Erfahrung nicht unmittelbar ist, ja dass es nichts geben kann, das nicht durch irgendetwas vermittelt wird, beruht darauf, dass „vermittelt“ im Sinne von „bedingt“ verstanden wird (E, § 66-70). Wie Schmidt (1835, 247) bemerkt, ist jedoch die Gewissheit der Erfahrung nicht unmittelbar im Sinne, dass sie keine Ursachen und Bedingungen hat, sondern im Sinne, „dass sie nicht logisch vermittelt oder bedingt sei, in der Art, dass […] in einer Vorstellung noch ein logischer Grund, d.h. Beweis ihrer Gewissheit läge“. Denn einen Beweis, dass Erfahrung wahr ist bzw. dass ihre Gegenstände Realität haben, kann nur die Erfahrung selbst liefern, da sie allein reale Wahrheit hat. Deshalb ist die Gewissheit der Erfahrung eine unmittelbare, d.h. in keiner anderen Gewissheit gegründete, obwohl sie ihre Bedingungen hat. „Man sieht das auch daraus, dass jene vorgeblichen Vermittelungen auf den Inhalt der Erfahrung gar keinen Einfluss haben, so dass sie ihm die Gewissheit geben oder nehmen könnten“.
30 Husserl behauptet, dass über das formale Apriori hinaus „eine apriorische Form für alle mögliche Realität besteht und dass eine Welt nicht ein Sammelsurium von für sich seienden […] Realitäten ist, sondern dass eine Welt überhaupt nur möglich ist unter einem System von Kategorien der Realität“ (Hua XLI, 319f.). Die einzelnen Realitäten „können nur reale Wirklichkeiten sein, wenn sie […] eine gewisse Form der realen Verbundenheit innehalten“ (ebd. 377), und die Welt ist „ein Ganzes, das alle Ganzen und alle etwaigen unteilbaren Realitäten in sich trägt in Verbundenheit“ (ebd. 261).
31 Feuerbachs Redewendungen sind irreführend. Denn zwar ist das Merkmal einer objektiven Existenz außer dem Gedanken, dass sie nicht nur intellektuell denkbar, sondern auch sinnlich erfahrbar ist, aber „außer dem Gedanken“ besagt nicht „außer der (möglichen) Vorstellung“ (von der man nicht loskommen kann), sondern „in der (möglichen) Wahrnehmung“, die selbst eine Vorstellung (wenngleich kein Gedanke) ist. Reales und Nicht-Reales sind nicht durch Vergleich zwischen inneren Vorstellungen und äußeren Dingen (die lediglich durch Vorstellungen gegeben sind), sondern erst innerhalb der Erfahrung unterscheidbar: Die Wirklichkeit ist das Korrelat der einstimmigen Erfahrung, die jedoch nicht vom Subjekt, sondern vom faktischen Inhalt und Verlauf der Erscheinungen abhängt (vgl. De Palma 2022, 10-13). Außerdem ist die „Negation des Denkens“ ein Widerspruch, da die Gültigkeit des Denkens immer vorausgesetzt ist. Gemeint wird damit jedoch die auch Husserls Phänomenologie zugrundeliegende Negation der ontologischen Tragweite des reinen Denkens.
32 Vgl. De Palma 2010.