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- Volume 8 (2012)
- Numéro 4
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Helmuth Plessner und die Phänomenologie der Intersubjektivität
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Einleitung
1Im Vorwort zur zweiten Auflage der Stufen des Organischen schreibt Helmuth Plessner über das Verhältnis zwischen der Phänomenologie und seiner Philosophischen Anthropologie: « Man wird Verständnis dafür haben, daß ich das Vorwort zur Neuauflage nicht durch Auseinandersetzungen mit Lehrmeinungen beschwere, die zu diesem Buch keine Beziehung haben. Bei Sartre, vor allem in seinen frühen Arbeiten, und bei Merleau-Ponty finden sich manchmal überraschende Übereinstimmungen mit meinen Formulierungen, so daß nicht nur ich mich gefragt habe, ob sie nicht vielleicht doch die Stufen kannten. Aber das gleiche ist mir auch bei Hegel passiert, auf den ich mich hätte berufen müssen, wären mir damals die entsprechenden Stellen bekannt gewesen. Konvergenzen beruhen nicht immer auf Einfluß. Es wird in der Welt mehr gedacht, als man denkt. »1 Doch nicht nur kannte Plessner, als er die Stufen verfasste, die von ihm selbst angesprochenen Hegel-Stellen nicht, sondern es war ihm auch ein beträchtlicher Teil von Husserls Beiträgen zur Intersubjektivitätsthematik, z.B. die V. Cartesianische Meditation, unzugänglich.2 Aufgabe dieses Aufsatzes ist es, einige nicht auf direktem Einfluss beruhende, aber doch Konvergenzen aufweisende Aspekte der Husserlschen und auf Husserl zurückgehenden Phänomenologie einerseits und der Plessnerschen Position andererseits darzustellen. Im Zentrum der Überlegungen steht neben den Stufen ein zweites Hauptwerk Plessners, seine Studie über Lachen und Weinen.
2Wie steht nun Plessner, ungeachtet der geschilderten biographischen und bibliographischen Lage, allgemein zur Phänomenologie? Er bewundert einerseits Husserls philosophische Strenge und die Produktivität der phänomenologischen Methode, misstraut ihr aber zugleich insofern, als sie als Transzendentalphilosophie « Ewigkeit, Kontinuität und Gemeinschaft vortäuscht »3. Gegenüber der Idee eines unendlichen Erkenntnisfortschritts durch Anwendung der phänomenologischen Methodik auf immer neue Bereiche und dem Ideal einer unendlichen Forschergemeinschaft ist Plessner skeptisch eingestellt. Er teilt Schelers Kritik an Husserls idealistischer Tendenz, die Konstitution jeglichen Phänomens, also auch des menschlichen Bewusstseins, aus einer urfundierenden Bewusstseinssphäre zu erklären. Hierin steckt eine Ablehnung des neuzeitlichen, von Descartes sich herschreibenden Subjektivitätsbegriffs, der bei Husserl häufig nahezu identisch mit dem Begriff des Bewusstseins gebraucht wird. Die transzendentale Konstitution des Bewusstseins, die Husserl mit den Methoden der phänomenologischen Analyse, durch die gedankliche Operation der Epoché und die unterschiedlichen Reduktionsformen auf die reine Subjektivität zu erhellen sucht, stellt sich für Plessner als eine aus dem organischen Lebensvollzug herausgelöste, metaphysische Abstraktion dar. Als Gegenentwurf hierzu und gleichermaßen zum akademisch tiefer verwurzelten Neukantianismus entwickelt Plessner eine Philosophie des Organischen, die gleichwohl nicht als empirische Anthropologie mit philosophischem Überbau verstanden werden darf, sondern durchaus einen fundamentalen Anspruch als apriorische Wissenschaft des Menschen besitzt.
3Was die philosophische Ausgangslage und die Weichenstellungen im geistigen Milieu der 1930er und 1940er Jahren betrifft, ist also zunächst die Spannung zwischen Philosophischer Anthropologie und Transzendentalphilosophie, insbesondere der transzendentalen Phänomenologie festzuhalten, innerhalb welcher die Thematik der Intersubjektivität im 20. Jahrhundert ihre prägnanteste Formulierung erfahren hat. Obgleich es zwischen beiden Bereichen der Philosophie zahlreiche Einflussnahmen und einen fruchtbaren Austausch gab und gibt, muss bemerkt werden, dass die transzendentale Philosophie der Intersubjektivität gegenüber der Philosophischen Anthropologie einen idealistischen Charakter transportiert. Sie versucht, das Wesen des Menschen als Mit-Menschen durch eine Analyse der transzendentalen Strukturen der Subjektivität und Intersubjektivität aufzuweisen, wobei diese transzendentalen Strukturen jedes überhaupt mögliche Bewusstsein bestimmen, nicht nur das menschliche. Die Intentionalität des Bewusstseins als grundlegende Struktur ist keineswegs auf das spezifisch menschliche Bewusstsein beschränkt, sondern man muss ebenfalls davon ausgehen, dass das Bewusstsein der Tiere immer « Bewusstsein von etwas » ist, d.h. dass Tiere bewusste Erlebnisse von Gegenständen im weitesten Sinne haben, ihre Wahrnehmungswelt also kein schieres Chaos von ungefilterten Sinneseindrücken ist, sondern sich immer schon in intentional vorstrukturierter Weise darstellt.
4Für Husserl stellt sich, ausgehend von diesen Grundstrukturen, die Frage, wie sich der Andere, der Mitmensch, in meinem transzendentalen Bewusstsein konstituiert und sich in seinem Charakter als mitseiender, miterfahrender und mitwissender Bewusstseinsträger bewährt. Von den diversen phänomenologischen Ansätzen zur transzendentalen Bestimmung des intersubjektiven Seins des Menschen können drei besonders einschlägige Betrachtungsweisen herausgehoben werden, die einmal von der Empathie als eigentümlichem Modus der Intentionalität, einmal von der Leiblichkeit sowie einmal von dem ursprünglichen Weltbezug des Subjekts, der am Paradigma der Objektwahrnehmung expliziert wird, ihren jeweiligen Ausgangspunkt nehmen.4 Wenn diese unterschiedlichen phänomenologisch-konstitutionsanalytisch herausgearbeiteten transzendentalen Strukturen jedem überhaupt möglichen Bewusstsein zugrunde liegen, insofern sein Welt- und Selbstbezug durch einen psychophysischen Leibkörper realisiert ist, so hat die Philosophische Anthropologie des Weiteren die Spezifizierung derjenigen Strukturen zu leisten, die nur beim menschlichen Bewusstsein anzutreffen sind, nicht aber beim nichtmenschlichen. Plessner antwortet auf diesen Anspruch mit seinem biophilosophischen Modell der Positionalität, das er in den Stufen entwickelt und in dem Pflanze, Tier und Mensch als Orga-nisationsformen des Lebendigen dargestellt und eingeordnet werden.
5Was das Verhältnis zwischen Philosophischer Anthropologie und Wissenschaften betrifft, hat Habermas hervorgehoben, dass die Anthropologie eine reaktive philosophische Disziplin sei, die keine Letztfundierung und Letztbegründung der Wissenschaften leisten will, sondern deren Ergebnisse anerkennt und verarbeitet.5 Die Kritik an dieser Reaktivität, aufgrund derer die Philosophische Anthropologie häufig als Ancilla der Wissenschaften degradiert wurde, spiegelt sich in Heideggers bekanntem Ausspruch: als « Anthropologie geht die Philosophie [...] zugrunde »6. Wenn man Habermas’ Bestimmung einmal annimmt, so stehen sich Husserl und Plessner, was ihre Grundintentionen betrifft, diametral gegenüber — der erstere unternimmt den Versuch, die ganze Philosophie und mit ihr alle Wissenschaften auf ein neues, methodisch gesichertes Fundament zu stellen, der zweite nimmt sich der Erkenntnisse der Wissenschaften an und verarbeitet sie zu einem neuen integrativen Ansatz, der die Dichotomie von transzendentaler und empirischer Analyse unterläuft. Das Vorgehen Plessners ist dabei jedoch durchweg philosophisch motiviert. Er sieht in der Auseinandersetzung mit den Wissenschaften kein methodisches oder inhaltliches Anlehnen an sie, sondern findet bei ihnen Anhaltspunkte und exemplarische Phänomene, die in einer Philosophie der Natur ihren Platz und ihre systematische Aufklärung erhalten müssen. Daher lautet Plessners Programm: « ohne Philosophie der Natur keine Philosophie des Menschen »7. Wie sich im Weiteren zeigen wird, sind gerade im Hinblick auf die leibkörperliche Grundverfasstheit des menschlichen Wesens und ihre Implikationen für den Bereich der Intersubjektivität die Phänomenologie und Plessners Philosophische Anthropologie in vielem verwandt.
6Was schließlich den Unterschied zwischen Philosophischer und empirischer Anthropologie betrifft, ist zu sehen, dass sie jeweils einen anderen Schwerpunkt haben, aber sich, wenn sie sich selbst richtig verstehen, aufeinander zu bewegen.8 Die Methodik der Philosophischen Anthropologie ist dadurch gekennzeichnet, dass sie zunächst wie die Phänomenologie aus der Perspektive der Ersten Person (erlebte Innenperspektive des Subjekts) geschieht und von einer Reflexion auf allgemeine Strukturen der Erfahrung ausgeht. Durch diese Perspektive ergeben sich Einseitigkeiten, über die man sich durch die detaillierten Kenntnisse der empirischen Anthropologie, die ihre Ergebnisse aus der Perspektive der Dritten Person (verobjektivierende und ggf. experimentelle Betrachtung und Messung) gewinnt, informieren lassen kann. Lässt man sich auf diesen Erkenntnisweg ein, möchte man aber, indem man auf bisher nicht gekannte konkrete Aspekte aufmerksam gemacht wird, diese gleichwohl nicht als objektiv gültig beschreiben, sondern begreift sie nur in einem Dialog, in dem die zunächst bewusstseinsexternen Strukturen im Bezug zu potentiell bewusstseinsinternen Strukturen gesehen und verglichen werden.
Expressivität als Grundphänomen menschlichen Mitseins
7Plessner zeigt in vielen Punkten starke Ähnlichkeiten zu Husserls und an Husserl anschließende phänomenologische Theorien der Intersubjektivität. So argumentiert auch er gegen Analogieschlusslehren der Empathie, denen gemäß man zunächst die Körpererscheinung des Anderen wahrnimmt, von der ausgehend man dann per Inferenz zu seinen intentionalen Zuständen vordringt. Plessner betont dagegen die « psychophysische Indifferenz », die sich besonders sinnfällig bei der Wahrnehmung von Ausdruckserscheinungen zeigt. Hierbei werden die inneren Zustände wie Emotionen, Antriebe, Wünsche und dergleichen in unmittelbarer Weise am immer schon als lebendiger Leib erfahrenen Anderen miterlebt. Die Angst ist in den aufgerissenen Augen gegeben, die Freude im Lachen, die Trauer im Weinen usw. Der psychische Zustand « befindet » sich nirgendwo hinter der Bühne des leiblichen Ausdrucks, sondern hat in ihm seinen genuinen Ort. So schreibt Plessner: « Bei der Annahme der Existenz anderer Iche handelt es sich nicht um Übertragung der eigenen Daseinsweise, in welcher der Mensch für sich lebt, auf andere ihm nur körperhaft gegebene Dinge, also um eine Ausdehnung des personalen Seinskreises, sondern um eine Einengung und Beschränkung dieses ursprünglich eben gerade nicht lokalisierten und seiner Lokalisierung Widerstände entgegensetzenden Seinskreises auf die ‹ Menschen ›. »9 Als auch empirisch nachweisbare Evidenz für diesen Sachverhalt verweist Plessner auf die Tendenz des Menschen zur Anthropomorphisierung bzw. attributiven Animierung von unbelebten Objekten. In Begriffen der Theorie des Geistes würde man hier von einem mentalistischen Vokabular sprechen, das im Bereich des Physikalischen verwendet wird. Andere in erster Linie als physische Gegenstände und erst in zweiter Instanz als belebte und mit psychischen Attributen ausgestattete Wesen aufzufassen, widerspräche nach Plessner dieser natürlichen Tendenz. Sie beliefe sich lediglich auf eine nachträgliche Abstraktion. Diese Grundannahme teilt Plessner mit phänomenologischen Autoren wie Scheler oder Merleau-Ponty. Sie macht sich an der Gedankenfigur einer ursprünglichen Einheit fest, in der Ich und Du, Selbst und Anderer, verbunden sind und die sich sekundär in beide Momente aufspaltet, ihre Konstitution dadurch erst ermöglichend. So spricht schon Scheler in seiner bekannten Wendung von einem « in Hinsicht auf Ich-Du indifferente[n] Strom der Erlebnisse »10, aus dem sich nach und nach in Zyklen Elemente aussondern, die dann den beteilitgen Individuen zugeordnet werden können. Dass dieses Gemeinsamkeitserlebnis keine rein geistige Angelegenheit ist, sondern die Teilhabenden in ihrer leiblichen Verfasstheit involviert sind, erhellt in Merleau-Pontys ebenfalls berühmter Bestimmung der Zwischenleiblichkeit als Kompräsenz von Ich und Du : der Andere und ich « sind wie Organe einer einzigen Zwischenleiblichkeit (intercorporéité) »11. Grundvoraussetzung für diese Verschränkung ist die Doppelaspektivität des eigenen Leibkörpers. In einer Art « leiblicher Reflexion » komme ich auf mich selbst als verkörpertes Subjekt in einer Weise zurück, die quasi-alteritär ist. Die gegliederte Ganzheit meines leibkörperlichen Erlebens dehnt sich in der konkreten Interaktion mit dem Anderen auf diesen aus und ermöglicht ein unmittelbares Einschwingen auf ihn, eine Synchronisierung, die zugleich eine Syntopisierung darstellt. Der Raum, der von den Interaktanten ausgefüllt wird, ist kein vorgegebener geometrischer Raum, in dem sie angebbare Positionen einnehmen, sondern ein durch ihre gemeinsamen Kinästhesen sowie die Ausdrucksgehalte ihres Verhaltens strukturierter und damit erst als gelebter Raum konstituierter.
8Wenn Plessner nun bemängelt, dass sich die empirische Erforschung menschlicher Ausdrucksphänomene wie etwa Lachen und Weinen weitestgehend vom eigentlichen Sachverhalt entfernt und den Fokus der Analyse auf die Anlässe verlegt habe, zu denen sie auftreten, so fordert er eine Rückkehr « zu den Sachen selbst », nämlich den expressiven Vorgängen des Lachens und des Weinens in ihrer inneren Struktur und ihrem inneren Wesen. In den Studien, die Plessner kritisiert, spielen Lachen und Weinen « die Rolle von Indikatoren, die den Ablauf einer Reaktion anzeigen. Die Analyse bemüht[e] sich um die Reaktion, den Indikator behandelt[e] sie nur als Mittel. »12 Damit wendet sich Plessner gegen eine Instrumentalisierung der Phänomene und eine Degradierung dessen, was eigentlich Thema der philosophischen und wissenschaftlichen Auseinandersetzung sein sollte. Gerade in seiner Anthropologie des Ausdrucks ist Plessner der Phänomenologie in ihrem Anspruch auf deskriptive Erfassung dessen, was sich in der Anschauung bietet, besonders nah. Was es laut Plessner hier braucht, ist eine Rückbesinnung und einen Rückgang auf die Ausdrucksphänomene, und zwar so, wie sie sich eben zeigen. Allgemein formuliert kommt es für seine Philosophische Anthropologie darauf an, « den Menschen mit seinen eigenen Augen sehen zu lernen »; und hierfür bietet die Ausdruckslehre ein wichtiges, « wenn nicht das wichtigste » Mittel.13
9Für Plessner ist die Expressivität in ihrer ganzen Fülle konkreter Ausprägungen der Schlüssel zur Intersubjektivität. So zeigt sich etwa die « Unmittelbarkeit und Unwillkürlichkeit des mimischen Ausdrucks [...] an der Unvertretbarkeit und Unablösbarkeit der Ausdrucksbewegung vom Ausdrucksgehalt. »14 Was wir wahrnehmen, wenn wir den Anderen in seiner Expressivität wahrnehmen, ist keine äußerliche Bewegung, kein Verhalten, von dem aus wir irgendeinen propositionalen Inhalt ableiten müssten, den wir dann seiner Psyche oder seinem Bewusstsein attribuieren würden. Was wir wahrnehmen, ist die « Einheit des expressiven Ganzen »15, von der her sich die Aufteilung in Körperbewegung und intentionalen Gehalt lediglich als eine retrospektive Abstraktion erweist. Anders als bei Symbolen gibt es im Bereich der primären intersubjektiven Ausdrucksphänomene wie Lachen und Weinen keine arbiträre Verknüpfung von Zeichen und Bedeutung bzw. Meinendem und Gemeintem — es gibt, mit Plessner gesprochen, eine « Indifferenz zwischen Inhalt und Form »16. Die Verbindung ist hier vielmehr eine inhärente, unbedingte. Zwar können der Leib und seine Bewegungen im Sinne der « Artikulation »17 zeichenhaft werden, wie es etwa bei sozial konventionalisierten Gesten oder in gesteigerter Form bei der Zeichensprache der Fall ist, doch enthalten die spontanen Ausdrücke stets einen irreduziblen Anteil an Unverfügbarkeit und damit ein Zwangsmoment, in dem sich der Körper in seiner Materialität und Widerständigkeit anzeigt. Dieser Konfrontation des Subjekts mit seiner eigenen Fremdheit, die sich primär als körperliche Unwillkürlichkeit präsentiert, entspricht eine Betrachtungsweise, in der leiblicher und körperlicher Aspekt desselben Wesens allererst in ihrem Verhältnis zueinander erkannt werden können. Gewährleistet wird diese Möglichkeit der Selbstbezüglichkeit durch eine Reflexion, die für Plessner in der exzentrischen Seinsart des Menschen gründet.
Exzentrizität und Reflexivität
10In der Strukturordnung des Lebendigen, die Plessner in den Stufen entwickelt, bezeichnet der Mensch bekanntermaßen diejenige Organisationsform, die über die Frontalstellung gegenüber der Umwelt heraustritt und sein Umweltverhältnis, seine Grenze zwischen sich selbst und der Umwelt, neuartig realisiert — nämlich als Verlagerung des Standpunktes ins Exzentrum. Von hier aus kommt die zentrische Stellung, die für die Lebensform des Tieres maßgeblich ist, allererst als solche in den Blick. Der Unterschied zwischen der zentrischen und der exzentrischen Positionsform lässt sich so beschreiben: « Auch das Tier muß seinen Leib einsetzen, situationsgemäß einsetzen, sonst erreicht es sein Ziel nicht. Aber der Umschlag vom Sein ins Haben, vom Haben ins Sein, den das Tier beständig vollzieht, stellt sich ihm nicht noch einmal dar und bietet ihm infolgedessen auch kein ‹ Problem ›. »18 Nur für den Menschen wird das Wechselspiel zum « Problem », ganz in dem ursprünglichen Sinne des griechischen Wortes próblema, das soviel bedeutet wie das Vorgehaltene, also dasjenige Schwierige (in der Rhetorik etwa eine Streitfrage), dem man nicht ausweichen kann, auf das man notwendigerweise reagieren muss. Das Wort kann — mit dem eben Gesagten durchaus verwandt — auch eine Klippe bezeichnen, etwas also, von dem aus sich ein Abgrund erblicken lässt, der eine unüberwindliche Grenze, einen Hiatus bedeutet. Dieser Hiatus steckt auch für Plessner in der Doppelaspektivität des Leibkörpers: nie kann der Mensch völlig in dem einen oder dem anderen Aspekt seiner Existenz völlig aufgehen, nie reiner Leib oder reiner Körper werden. Stets bleibt die Kluft zwischen beiden Seinsweisen ein und desselben Daseins bestehen.
11Eine Ähnlichkeit zwischen Plessners anthropologischem Projekt und der Phänomenologie im Hinblick auf die Intersubjektivitätsthematik ist also die Behauptung einer apriorischen Ambivalenz des Selbst, einer primordialen Differenz zwischen Selbst und Selbst, zwischen zwei gleichursprünglichen Aspekten desselben. Diese ergibt sich für Plessner aus der exzentrischen Positionalität des Menschen, für Husserl aus der Reflexivität des Bewusstseins. Zum Phänomen der Selbstspaltung und der Beziehung zwischen Selbst und Anderem schreibt Plessner: « Den Zweifel an der Wahrhaftigkeit des eigenen Seins beseitigt nicht das Zeugnis der inneren Evidenz. Es hilft nicht über die keimhafte Spaltung hinweg, die das Selbstsein des Menschen, weil es exzentrisch ist, durchzieht, so daß niemand von sich selber weiß, ob er es noch ist, der weint und lacht, denkt und Entschlüsse faßt, oder dieses von ihm schon abgespaltene Selbst, der Andere in ihm, sein Gegenbild und vielleicht sein Gegenpol. »19 Wie kann man sich aber diese Selbstspaltung genauer vorstellen?
12Nach Husserl ergibt sie sich direkt aus der wesenhaften Möglichkeit des intentionalen Bewusstseins zum Akt der Reflexion. Das Bewusstsein hat ihm zufolge nicht nur direkte Erlebnisinhalte (Empfindungen oder Gegenstände der inneren oder äußeren Wahrnehmung sowie kategoriale Inhalte), sondern kann diese primären Inhalte in höherstufigen, fundierten Akten selbst wiederum zum Gegenstand machen. Indem das reflektierende Bewusstsein auf sich selbst zurückkommt und sich in Betracht nimmt, treten der subjektive (beobachtende) und der objektive (beobachtete) Teil desselben Erlebnisganzen auseinander. Hier wie insgesamt für die neuzeitliche Subjektphilosophie ist die Reflexion das universale Mittel der Erkenntnis der Subjektivität, der subjektiven Grundstrukturen und damit der Welt, die sich in den Grenzen darstellt, welche von den apriorischen Formen des Subjekts gesteckt werden. Der transzendentale Beitrag der Subjektivität zur Wahrnehmbarkeit und Erkennbarkeit von Welt kann demgemäß nur im Rahmen einer Selbstreflexion dieses Subjekts erfolgen. Auch für Husserl hat die Reflexion die zentrale erkenntnisgenerierende und -verbürgende Funktion, so dass sich « die phänomenologische Methode […] durchaus in Akten der Reflexion »20 bewegen muss. Die philosophische Reflexion ist für Husserl eine Radikalisierung dessen, was auch im normalen Welt- und Selbstbezug des Subjekts in der Sphäre der doxa bereits als Vermögen angelegt ist, nämlich als Fähigkeit zur Selbstdistanzierung und Selbstbetrachtung. Der Bruch mit der intentio recta des vorphilosophischen Bewusstseins kennzeichnet die Position des verobjektivierenden Betrachter-Ich als einen unnatürlichen (Un-) Ort. Für Plessner entsteht dieses Kontrafaktische — Utopische —, von wo aus wir auch die intersubjektiven Strukturen des Daseins unabhängig von unserem faktischen Mit-Sein mit Anderen in den Blick bekommen, aus der exzentrischen Positionalität. Die Fähigkeit, sich auf diese Weise zu distanzieren, ist nicht nur die Bedingung der Möglichkeit von Personalität, sondern auch von Empathie. Von dem utopischen Standort aus können wir uns selbst an Stelle jedes anderen Menschen erfahren.
13Die exzentrische Positionalität ist nach Plessner insgesamt die Bedingung der Möglichkeit, Andere als Andere zu erfahren sowie sich selbst als von Anderen wahrgenommen und erlebt zu erkennen. Exzentrizität ist die Grundlage von Selbst- und Fremdbewusstsein sowie einer sozialen Welt überhaupt. « Durch die exzentrische Positionsform seiner selbst ist dem Menschen die Realität der Mitwelt gewährleistet. Sie ist also nichts, was ihm erst auf Grund bestimmter Wahrnehmungen zum Bewußtsein kommen müßte […]. Mitwelt ist die vom Menschen als Sphäre anderer Menschen erfaßte Form der eigenen Position. Man muß infolgedessen sagen, daß durch die exzentrische Positionsform die Mitwelt gebildet und zugleich ihre Realität gewährleistet wird. »21 Es gibt demnach einen logischen Vorrang der Exzentrizität jedes Einzelnen (bzw. des Menschen überhaupt) vor der Sozialität der Mitwelt und den abgeleiteten Formen von Personalitäten höherer Stufen. Die Ähnlichkeit zu Husserl besteht hier in der Argumentation dafür, dass Intersubjektivität schon in der Form unserer Wahrnehmung und unserer Leiblichkeit begründet liegt. Die Strukturform des Leibkörpers verbürgt immer schon den Fremdheitsanteil und die anonyme Möglichkeit, auf uns selbst als ein Anderer zurückzukommen. Aus der « utopischen » Perspektive des exzentrischen Standortes erwächst eine Allgemeinheit, die darin besteht, dass wir an Stelle jedes möglichen Anderen Erfahrungen machen. Hierin liegt die grundlegende Voraussetzung für die Entwicklung sozialer Interaktionen. Wie Husserl und Merleau-Ponty betont auch Plessner, dass Alterität schon immer im eigenen Selbst steckt — ermöglicht primär durch die Doppelaspektivität des Leibkörpers —, doch weitet er die phänomenologischen Ansätze insofern aus, als er Sozialität im Rahmen einer « Mitwelt » betrachtet, die er als « geistige Welt » bestimmt.22
Geistigkeit und responsive Neutralisierung metaphysischer Dualismen
14Wie auch für Scheler23 fungiert der « Geist » bei Plessner als die strukturelle Bedingung für Umweltentbundenheit und Weltoffenheit,24 d.h. dafür, dass es dem Menschen überhaupt gelingen kann, sich von seinen natürlichen Bedingtheiten und den Zwängen des Alltags bzw. der Lebenswelt zeitweise zu entsagen und in dieser Distanznahme sich in ein Verhältnis zu diesem alltäglichen Welt- und Selbstverhältnis zu setzen.
15Für Plessner « ist das körperleibliche Dasein für den Menschen ein Verhältnis, in sich nicht eindeutig, sondern doppeldeutig, ein Verhältnis zwischen sich und sich (wenn man es genau sagen will: zwischen ihm und sich). »25 Ein Verhältnis kann man allerdings nur mit etwas haben, das unter mindestens einem Aspekt nicht identisch mit einem selbst ist. Das Verhältnis hat man also zwar schon mit sich — aber mit sich als nicht mehr ganz sich selbst, sondern mit sich als einem anderen.26 Dann ist Alterität schon in der Ipseität enthalten bzw. es kann sich Selbstheit überhaupt nur aufgrund eines inhärenten Anteils an Fremdheit konstituieren.
16Allgemein, in Begriffen der Intentionalität, gesagt: Etwas erscheint immer als etwas. Was dieses « als » zum Ausdruck bringt ist: Etwas erscheint als etwas anderes. Das Erscheinende erscheint als etwas anderes, als vom ursprünglich Gegebenen Abweichendes, als nicht mehr ganz das, was es eben noch war. Man könnte auch sagen, es verschränken sich hier zwei Ordnungen ineinander und « bilden eine merkwürdige Einheit. »27 Diese Gedankenfigur der Verschränkung zweier wesensmäßig aufeinander bezogener Ordnungen des menschlichen Seins weist von Plessner ausgehend auf eine im Rahmen von Waldenfels’ responsiver Phänomenologie herausgestellte Relation zwischen Eigenem und Fremdem, die keine vollständige Disparatheit zulässt, sondern vielmehr eine Zwischenwelt konstituiert, in der Differenzen thematisch werden aufgrund einer vorausgehenden relativen Indifferenz.
17Dieses leibkörperlich fundierte Menschenbild kann auch als Wissenschaftbild weitergedeutet werden. Fremdheit kann in dieser Richtung dann nicht nur auf der gegenständlichen Seite zum Thema eines interdisziplinären Dialogs werden, sondern bestimmt zugleich auf der Seite des Sichbeziehens auf Gegenstände die methodologische Ausgangsbasis des Dialogs selbst. Fremdheit entsteht mithin in der Bewegung von Eingrenzung und Ausgrenzung, deren Ort der Dialog ist, welche Perspektive ausgehalten werden muss und nicht zugunsten einer dritten übergreifenden Warte aufgelöst werden darf. Da es immer auch Fremdheit im Eigenen gibt, ist der so verstandene Dialog auch ein Prozess der Selbstvergewisserung.
18Wenn das Fremde nicht das Wonach unseres Fragens, sondern das Worauf unseres Antwortens ist, so befinden wir uns bereits auf dem Terrain der Fremdheit, wenn wir uns mit der Verbindung zweier Disziplinen beschäftigen, so wie es bei Plessner für Philosophie und Biologie der Fall ist. Der Anspruch der jeweils fremden Disziplin fordert eine bestimmte Form der responsiven Epoché, die den genuinen Logos einer ursprünglich interdisziplinären Erfahrung freisetzt. Das « Inter » bezeichnet ein laterales universales Terrain, auf dem sich das Selbst durch den Anderen, das Eigene durch das Fremde und jeweils umgekehrt erprobt. « Das Zwischen, in dem dieser Austausch sich vollzieht, ist weder durch ein umgreifendes Drittes vermittelt, noch gründet es in einer Urregion des Eigenen. »28
19Die phänomenologische Reduktion und die durch sie ermöglichte Erschließung der Sinndimension subjektiven Verhaltens zur Welt bedeutet allerdings nicht, dass phänomenale Daten bzw. rein innerlich erlebte Inhalte die objektive Realität ersetzen, sondern dass diese Realität so aufgefasst und angenommen wird, wie sie sich im Bewusstsein zeigt und sich in der Erfahrung konstitutiert. Insofern dabei weder dem Bewusstseinsakt, noch dem weltlichen Bewusstseinskorrelat — weder den noetisch-immanenten, noch den noematisch-transzendenten Elementen des Erlebnisses — ein ontologisches Primat zugesprochen wird, ist die phänomenologische Betrachtung gegenüber dem Dualismus von Innen und Außen, von phänomenalem und realem Gehalt, schließlich auch von geistes- und naturwissenschaftlicher Betrachtungsweise gegenüber neutral. Dies macht eine phänomenologisch-anthropologische Konzeption des menschlichen Bewusstseins — und auch des Gehirns — zu einem vermittelnden Kernstück in der aktuellen interdisziplinären Erforschung des Mentalen und der Kognition.29
20Im Kontext metaphysischer Alternativen spricht sich auch Plessner, ähnlich der responsiven Neutralisierung des Innen-Außen-Schismas, gegen einen Monismus (der ein Reduktionismus auf entweder das Physische oder das Psychische wäre) ebenso wie einen Dualismus (der die beiden als unabhängige, wenn auch im Sinne der Psychophysik aufeinander bezogene Seinsbereiche betrachtet) aus : « Unsere Fragestellung ist auf keine Metaphysik eingeschworen, sie beruft keine Metaphysik für die Antwort. Wir vertrauen sie der Erfahrung an, zu der ihr Objekt und seine Erkenntnisquellen gehören. Erfahrung verträgt in diesem Zusammenhang keine Restriktion zuliebe einer Methode, sondern fordert volle Offenheit im alltäglichen Umgang von Mensch zu Mensch, von Mensch zu Welt. »30 Hierzu bedarf es einer Operation, « die Phänomene zu allererst in ihren lebendigen Ursprungszusammenhang zurückzuversetzen »31.
21Der Rückgang auf einen solchen lebendigen Ursprungszusammenhang, in dem es mehr um die praktische Alltagsbewältigung und das konkrete Zusammenleben in Gemeinschaften geht, bringt Plessners Vorhaben in die Nähe der Lebensweltphänomenologie. Die « Monopolansprüche » verschiedener metaphysischer Paradigmen werden hier zugunsten einer genuinen Erfahrung unterlaufen, in der sowohl die Ursprünge, als auch die Objekte eines spezifischen Erkenntnisinteresses bestimmt werden können. Antidualistisch und antireduktionistisch argumentiert Plessner, exemplifiziert an den beiden für ihn zentralen Grundphänomenen menschlicher Expressivität, weiter: « Lachen und Weinen als Ausdruckserscheinungen begreifen, heißt [...] nicht, sie den methodischen Isolierungen der Physiologie, Psychologie und ihrer nachträglichen korrelativen Verknüpfung nach dem Prinzip der Psychophysik zu unterwerfen, sondern zu allererst: sie in ihren ursprünglichen lebendigen Zusammenhang zurückversetzen. »32 Dieser ursprüngliche Lebenszusammenhang ist, phänomenologisch gesprochen, die Lebenswelt, in der die Ausdruckserscheinungen einen primären intersubjektiven Bezugsrahmen für die Kommunikation zwischen Individuen herstellen. Sie bilden das geteilte Netzwerk von Bedeutungen, die leiblich verankert sind und insofern jedem Menschen Sinn vermitteln, der vorsprachlich bzw. sprachfundierend ist. Dieser vermittelnde Aspekt der leibkörperlichen Doppelkonstitution des Menschen wird von Plessner in seinem anthropologischen Grundgesetz der « vermittelten Unmittelbarkeit » weiterhin pointiert. Diese Grundstruktur wird im Folgenden mit Husserls Begriff der Fremderfahrung als « bewährbare[n] Zugänglichkeit des original Unzugänglichen »33 in Beziehung gebracht.
« Vermittelte Unmittelbarkeit » und « zugängliche Unzugänglichkeit »
22Plessners Gesetz der « vermittelten Unmittelbarkeit » (im Grunde gleichbedeutend mit der « exzentrischen Position »34) der menschlichen Existenzweise und Husserls « bewährbare Zugänglichkeit des original Unzugänglichen »35 in der Erfahrung des fremden Bewusstseins weisen interessante Parallelen auf. Zunächst scheinen diese beiden paradoxalen Formulierungen sich auf unterschiedliche Dinge zu beziehen. Worauf Plessner mit seinem Diktum der vermittelten Unmittelbarkeit hinaus will, ist eine anthropologische Grundbestimmung des Menschen, die zunächst unabhängig von allem Zwischenmenschlichen das Ineinanderwirken und die konstitutive Doppelgestalt von Leib-Sein und Körper-Haben beschreibt. Was Husserl mit der Rede von der zugänglichen Unzugänglichkeit meint, ist die eigentümliche Gegebenheitsweise des Bewusstseins eines anderen Menschen für mich. Hiermit geht er also scheinbar bereits über die Sphäre der eigenen Leiblichkeit und des eigenen Bewusstseins hinaus. Wenn man aber bedenkt, dass dieser intersubjektive oder empathische Bezug zur Leiblichkeit des Anderen — und Intersubjektivität überhaupt — sich bereits in meinem eigenen Leibkörper bekundet, so tritt die Ähnlichkeit zwischen Husserls und Plessners Doppelfiguren deutlicher zutage. Man könnte sagen, die zugängliche Unzugänglichkeit des Anderen gründet in der vermittelten Unmittelbarkeit meiner selbst, in der exzentrischen Positionalität, die sich in meinem Leibkörper manifestiert. Diese Aussage lässt sich mit Husserls Beschreibung der Selbstbezüglichkeit des Eigenleibes in Einklang bringen.36 Für Husserl entsteht die Problematik des mittelbaren Bezugs zum fremden Bewusstsein nicht als erschwerendes Moment nachträglich zu der Situation, in der ich mir selbst völlig transparent bin und sich meine Leiblichkeit und Körperlichkeit in einem idealen Gleichgewicht befinden. Vielmehr ist der Eigenleib in seiner Doppelfunktionalität als Körperding und Empfindungsorgan, als intentionaler Gegenstand und intentionaler Vollzug, als Objekt und Subjekt, bereits « problematisch »: « Derselbe Leib, der mir als Mittel aller Wahrnehmung dient, steht mir bei der Wahrnehmung seiner selbst im Wege und ist ein merkwürdig unvollkommen konstituiertes Ding. »37
23Da Subjektivität immer verleiblichte Subjektivität ist, kann Selbsterkenntnis immer nur über den Umweg bzw. durch den Leib in seiner eigentümlichen Doppelkonstitution hindurch gewonnen werden. Nicht erst die Erfahrung des und die Konfrontation mit dem Bewusstseinsleben eines Anderen lehrt diese Vermitteltheit, sondern bereits die Primärerfahrung meiner selbst als Leibkörper. In diese Erfahrung eingeschrieben ist ein Verstehen seiner selbst, ein erstes implizites Ausgelegtsein auf sich selbst, das im konkreten Verhalten realisiert und ausgetragen wird : « Nur das Verhalten erklärt den Körper, nur die dem Menschen nach seiner Auffassung und Zielsetzung vorbehaltenen Arten des Verhaltens, Sprechen, Handeln, Gestalten, Lachen und Weinen, machen den menschlichen Körper verständlich, vervollständigen seine Anatomie. »38 Der Körper allein verlangt noch keine erklärende — oder besser: interpretatorische — Leistung, weder von Seiten des Körper-Habenden, noch von Seiten des diesen Körper Beobachtenden. Das Erklärungsbedürftige des Leibkörpers tritt erst dann auf, wenn es Verhalten gibt. Weil das Verhalten sich an einem Körper zeigt, sich mit ihm und in ihm vollzieht, gibt es überhaupt auslegungsbedürftige Ausdrucksphänomene. Die Körperseite, als bloß physische Erscheinung, ist deshalb nicht auslegungsbedürftig, weil sie sich stets so zeigt, wie sie als Naturbeschaffenheit ist.
24Erst durch die Wechselwirkung und die Parallelität von Körpererscheinung und leiblichem Verhalten entsteht die Notwendigkeit der korrelativen Betrachtung und des Abgleichs zwischen physischem und psychischem Aspekt. So sieht es auch Husserl, wenn er schreibt, dass sich im Bereich der Intersubjektivität die Innerlichkeit des Anderen (seine intentionalen Zustände) am äußerlich beobachtbaren Verhalten als gerechtfertigt ausweisen lassen muss: « Der erfahrene fremde Leib bekundet sich fortgesetzt wirklich als Leib nur in seinem wechselnden, aber immerfort zusammenstimmenden Gebaren, derart, daß dieses seine physische Seite hat, die Psychisches appräsentierend indiziert, das nun in originaler Erfahrung erfüllend auftreten muß. »39
25Intersubjektive Erfüllung ist hierbei nur eine Möglichkeit. Enttäuschung gibt es aber gleichermaßen — z.B. wenn sich, wie in Husserls bekanntem Beispiel, eine menschliche Gestalt bei näherem Hinsehen als Schaufensterpuppe erweist und sich die Erwartungen des Erscheinungsablaufs im betrachtenden Subjekt entsprechend ändern. Worauf die Philosophische Anthropologie wie die Phänomenologie hierbei hinweisen, ist die Fragilität des intersubjektiven Gleichgewichts, das zwar durch positionale bzw. transzendentale Grundstrukturen fundiert ist, aber immer auch umschlagen kann in Zustände, die in der konkreten Erfahrung nicht mehr als funktionierendes Miteinander erlebt werden können. Zeugnis hiervon legen Husserls Intersubjektivitätsanalysen (im Besonderen die Auseinandersetzungen mit unterschiedlichen Arten des Fremdpsychischen, die als Liminalitäten zu beschreiben sind)40 ebenso Zeugnis ab wie etwa Plessners Werk Grenzen der Gemeinschaft41, auf das im Rahmen dieses Aufsatzes nicht weiter eingegangen werden kann.
Schlussbemerkung
26Trotz zahlreicher Bemerkungen Plessners, die seine kritische Haltung zur Phänomenologie in ihrer transzendentalidealistischen Ausprägung beim mittleren und späten Husserl zum Ausdruck bringen, lassen sich, wie gezeigt wurde, auch starke Ähnlichkeiten zwischen der philosophisch-anthropologischen und der phänomenologischen Heransgehensweise erkennen. Die metaphysikkritischen und methodischen Grundannahmen, gerade im Hinblick auf das Problem des Fremdpsychischen, lassen sich engführen. Auf dieser Grundlage erscheint heute eine phänomenologische Anthropologie, die sich im Ausgang von Husserl und Plessner in empirieoffener Weise aktuellen Problemen stellt, als besonders fruchtbarer Weg einer interdisziplinären Auseinandersetzung.
27In den Diskussionen der Philosophie des Geistes und der Kognitionswissenschaften hat das Konzept des « Embodiment » in den vergangen zwei Jahrzehnten zu einer tiefgreifenden Wende geführt. Mit den Forschungen zur verkörperten Kognition wurde das vorherrschende Symbolverarbeitungsparadigma und der auf Descartes zurückgehende Repräsentationalismus in der Theorie des Mentalen einer grundlegenden Revision unterworfen. Während die informationstheoretischen Ansätze der klassischen Kognitionswissenschaft von in sich abgeschlossenen informationsverarbeitenden Systemen ausgingen, in denen sensorischer Input und motorischer Output nach klaren Regeln algorithmisch verrechnet werden, betont die « embodied cognitive science »42 die Rolle der peripheren leiblichen Verarbeitung sowie die Eingebettetheit des kognitiven Systems in eine ökologische und soziale Welt und bezieht sich hierbei sowohl auf die klassische und neuere Phänomenologie sowie in zunehmendem Maße auch auf die Philosophische Anthropologie.
28Kritisiert wurde im Zuge dessen auch der naturalistische Reduktionismus und der Zerebrozentrismus der modernen Neurowissenschaft und Neurophilosophie. Nicht mehr das Gehirn wurde nun als genuiner Ort der Kognition oder des Geistigen thematisiert, sondern der ganze Organismus in seiner Beziehung zur Umwelt und seiner Angelegtheit auf intersubjektive Kommunikation rückte ins Zentrum des Interesses. Damit verbunden war auch eine Renaissance der Phänomenologie des Leibes. Ebenfalls wurde die Philosophische Anthropologie wiederentdeckt, da sie das Verhältnis von Leib, Körper, Geist und Kultur im Hinblick auf genuin menschliche Dispositionen und Fähigkeiten analysiert. Hier wird die Mensch-Tier-Differenz weder evolutionistisch als graduelle Komplexitätssteigerung der genetisch angelegten Vermögen eingeebnet, noch transzendentalistisch aus apriorischen Kategorien abgeleitet. Vielmehr werden in einem offenen Diskurs mit den empirischen Wissenschaften grundlegende Strukturen des Lebendigen herausgearbeitet, die in den systematischen Zusammenhang einer Natur- und Kulturgeschichte gestellt werden. Die Analyse solcher Strukturformen (oder Positionalitäten) stellt sowohl für den vertikalen Vergleich des homo sapiens mit anderen Spezies, wie auch den horizontalen Vergleich der menschlichen Kulturen untereinander im Dialog mit der Evolutionären Anthropologie einerseits und der Sozialpsychologie und Ethnologie andererseits eine wichtige Grundlage dar.
29In all diesen Bereichen stellt der Leib eine zentrale Schnittstelle zwischen Natur- und Kulturentwicklung sowie zwischen Körper und Geist dar. In seiner Materialität ist er Teil der biologischen und physikalischen Welt, als Empfindungsorgan ist er Medium des subjektiven Erlebens, aber durch seine Expressivität auch des intersubjektiven Bezugs zu Anderen. Auf einer basalen Ebene ermöglicht der auf Kommunikation angelegte Leib den Zugang zu einer « geistigen Welt », also einer Kulturgemeinschaft.
30Danksagung Dieser Aufsatz entstand im Rahmen des Forschungsprojekts „Anthropologie der Intersubjektivität“ (AZ. 1.16101.08), gefördert durch die Baden-Württemberg Stiftung. Der Autor dankt den Mitarbeitern der Sektion Phänomenologie an der Psychiatrischen Universitätsklinik Heidelberg für die hilfreichen Kommentare, die er zu einer früheren Version des Textes erhalten hat.
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Universität Heidelberg – Husserl-Archiv Freiburg